Randbemerkungen

Ein fiktiver Brief

Du sagst mir, dass du es beängs­tigend findest, was in der Ukraine passiert, und ich pflichte dir bei. Aber dann ergänzt du: weil das den DAX so drückt.
Bitte entschul­dige meine dies­bezüg­lich nonexis­tente Anteil­nahme – das Vertikal­mäandern der Status­meldungen irgend­welcher Zocker­spiel­plätze könnte mir in diesem Kontext nicht gleich­gültiger sein:

Erstens: Wenn der ohnehin schwe­lende Konflikt sich zum Flächen­brand entwi­ckelt, hat das huma­nitäre Folgen, ange­sichts derer es schlicht zynisch ist, sich vor allem um Börsen­„werte“ zu sorgen.
Und zweitens: Was bitte ist so schwer zu begreifen daran, dass das, wofür der DAX steht – Wett­bewerb nach den zeitlos-char­manten Regeln des Faust­rechts; fakten­resis­tenter Irrglaube an unend­liches Wachs­tum aus endlichen Ressourcen –, uns einen wesent­lichen Teil der Krisen, mit denen wir uns lokal wie global heute herum­schlagen, über­haupt erst einge­brockt hat?

Die einzige Sorge, die ich im Zusammen­hang mit dem DAX habe, ist die, dass er und seine Pendants welt­weit in zehn oder 20 Jahren immer noch nicht in Verges­senheit geraten sein könnten. Denn das würde bedeuten, dass wir es als Mensch­heit dann immer noch nicht geschafft hätten, aus zerstöre­rischem Gegen­einander ein nach­haltiges Mitein­ander zu machen. Dass wir es dann immer noch geboten und ange­messen finden, als globaler Norden unsere „Gewinne“ auf Kosten des globalen Südens zu erzielen, dortige Menschen und Ressourcen auszu­beuten, um weiterhin unseren Wohl­stands­müll eben­dort zu verklappen. (Was übrigens – und das ist ein Hinweis an mich ebenso wie an dich, weil es leicht aus dem Blick gerät – nicht nur auf diffuser mora­lischer Ebene proble­matisch, sondern insti­tutio­nell wie indi­viduell rassis­tisch ist.)

Tatsäch­lich finde ich es immer wieder erstaun­lich, wie wirksam man mit straff sitzenden Scheuk­lappen ausblenden kann, welches Elend und welche Zerstö­rung freie Märkte und Börsen­mecha­nismen anrichten: auf sozialer wie auf ökolo­gischer Ebene, im Inneren (in Gestalt einer stetig sich aufsprei­zenden Schere zwischen Arm und Reich) wie im globalen Äußeren. – Und wenn die Scheu­klappen nicht mehr reichen, dann baut man Mauern. Um privi­legierte Wohn­viertel, aber auch an den EU-Außen­grenzen. Dahinter spielt man dann weiter Börse und macht „Gewinne“ auf Kosten aller auf der anderen Seite der Mauer. Wie lange mag das gut gehen?

Nein, ich weigere mich, den Ausschlägen des DAX irgend­eine Bedeu­tung beizu­messen; für mich gehört dieses Konzept in die große, bereits üppig gefüllte Tonne mit toxischem Rest­müll des 20. Jahr­hunderts – fossilen Treib­stoffen, (Regional-)­Flug­häfen, Über­konsum, Face­book und Co., … um nur ein paar zu erwähnen.
Und dann wird es höchste Zeit, die Tonne zur Entsor­gung zu bringen.

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