Randbemerkungen

Mehr schlecht als gerecht

Vielleicht wird es einmal als Kardinal­fehler der noch amtie­renden Regie­rung erkannt werden, dass zu keinem Zeit­punkt Fragen der Gerech­tigkeit ange­messen adres­siert worden sind. Aner­kennungs­punkte vergebe ich zwar für Robert Habeck dafür, recht­zeitig das Stich­wort Milliardärs­steuer in die Debatte geworfen zu haben, so dass Fried­rich Merz noch einmal bestä­tigen konnte, vom reichs­ten Zehntel­prozent im Lande nicht ansatz­weise Verant­wortung fürs Gemein­wohl einfor­dern zu wollen – danke dafür, Herr Merz, dass das nun geklärt ist. Aber ansonsten war aus der Ampel zu Gerech­tig­keits­belangen, national wie global, erschre­ckend wenig zu hören.

Schon klar: Echte soziale Politik wäre in dieser Konstel­lation ohnehin nicht reali­sierbar gewesen – wie auch, wenn du einer­seits ’nen Lobby­verband mit durch­füttern musst, der von seinen Spen­dern klipp und klar beauf­tragt ist, dich zu sabo­tieren, und anderer­seits dein Senior­partner unter gravie­renden Gedächtnis­lücken leidet, was den ursprüng­lichen Sinn des S im Partei­namen betrifft (Morbus Scholz, mutmaß­lich chro­nisch). Aber zumin­dest viel lauter und deut­licher hätte es eine Partei wie die Grünen, mit der viele Mitglieder ebenso wie Wähler*­innen einen bestimmten mora­lischen Anspruch verbinden, zur Diskus­sion stellen müssen, wie wir in Zukunft grund­sätz­lich auf lokaler, nationaler und globaler Ebene Probleme lösen wollen und wie dabei die Lasten verteilt werden sollten.

Denn das eine scheint mir evident: Eine Zeit (so es sie in der Praxis je gab), in der alle Parteien im demokra­tischen Spektrum sich einig waren über das Ziel – ein gutes Leben für mög­lichst alle – und von links bis rechts nur über den Weg dort­hin debat­tierten, so eine Zeit ist vorbei. Die hemmungs­lose Gier und das notfalls gewalt­tätige Vertei­digen der eigenen Privi­legien gegen Schwä­chere, die sich in Gestalten wie Trump und seiner Milliar­därs-Entou­rage, in Milei oder in Putin mani­festieren, macht auch um Europa und um Deutsch­land keinen Bogen (siehe auch). Das veran­lasst uns nach außen, den Kontinent abzu­schotten gegen Flüch­tende vor den Katas­trophen, die wir mit verur­sacht haben; und nach innen, Hass und Verach­tung zu schüren gegen die Ärmsten, um davon abzu­lenken, wie sich viele der Reichsten zu Lasten der Gemein­schaft selbst bedienen.

Ein derartiger Mangel an Solida­rität auf allen Ebenen ist ange­sichts unserer Krisen im Erd­system, die zu bewäl­tigen es drin­gend globaler Koope­ration bedürfte, keine gute Entwicklung.

Umso schlimmer finde ich es, dass sich auch viele (Realo-)Grüne beispiels­weise immer noch mit der Idee identi­fizieren, Deutsch­lands Wirt­schaft befinde sich in Konkur­renz zu anderen Volks­wirt­schaften und es gelte ihre Wett­bewerbs­fähig­keit zu sichern. Denn solches Wett­bewerbs­denken ist erstens das Gegen­teil von Solida­rität und von Koope­ration, und zweitens fehlt mir auch dabei die Gerech­tig­keits-Kompo­nente: Bisher hat es uns unsere Wirt­schafts­leistung ermögl­icht, auf einem verglichen mit der gesamten Welt­bevöl­kerung sehr viel höheren Niveau zu konsu­mieren und endliche Ressourcen zu verbrau­chen, als es pro Kopf unserem fairen Anteil entspricht1; aber mit welcher Berech­tigung sollte das so bleiben? Wenn also zur Wahl wieder die Zeitungen titeln, „Diese Entlas­tungen planen die Parteien“, dann fehlt dabei ganz klar die Frage, welche Entlas­tungen von den Folgen des deutschen Lebens­stils für den Rest der Welt geplant sind … Ähnlich: Warum hinter­fragt niemand 900.000 Priva­tiers in Deutsch­land, die, obzwar arbeits­fähig, leis­tungslos von Zins­erträgen leben, während 15.000 Arbeits­verwei­gerer in Bürger­geld-Bezug regel­recht dämoni­siert werden? – Solche Fragen müssten gesell­schaft­lich drin­gend disku­tiert werden; aber wie, wenn niemand sie stellt, weil sich auch die Gutwil­ligsten von der Agenda jener treiben lassen, die von völlig anderen (Eigen-)­Interessen geleitet sind?

Insgesamt wünschte ich mir, Team Habeck würde es wagen, uns Bürger*­innen mehr zuzu­muten, und sich viel weniger davon beein­flussen lassen, aus welcher Rich­tung gerade der Wind des Welt­zeit­geists weht; mehr Mut, Begriffe selbst neu zu defi­nieren, eine eigene Agenda zu setzen. Wie es auf Klima­streik-Bannern gern mal steht: System Change Not Climate Change! – und dabei erst mal mit dem System beginnen, innerhalb dessen wir denken; der Rest ergibt sich dann. Aus veral­teten Konzepten jener, die viel­leicht zu Adenauers Zeit mal wirt­schafts­kompe­tent waren, entstehen nur veral­tete Ansprüche, und denen kann ein moderner Kopf gar nicht gerecht werden. Und an Politik-Ange­boten von und für zynische Egoisten, die am liebsten nach unten treten, herrscht in Deutsch­land derzeit wahr­lich kein Mangel; wohl aber an solchen für Menschen, die immer noch glauben (möchten), dass wir es besser machen können.


Zusammen­hanglos ein aktuelles Bild, nur um nicht schon wieder meinen Platz­halter auf der Start­seite zeigen zu müssen 🙂


  1. Stichwort Earth Overshoot Day: weltweit zuletzt am 1. August, für Deutschland schon am 3. Mai. ↩︎

5 Comments

  • Aebby

    *Seufz … Du zählst die Gründe auf warum ich nicht mehr bei den Grünen bin – was mich aber nicht davon abhalten wird im Wahlkampf mitzumachen. Vom aktuellen Kanzler-Kandidaten-Angebot ist Robert Habeck der Beste (oder das kleinste Übel).

    Ich könnte heute noch über die Entscheidung heulen, dass er bei der letzten Wahl nicht kandidiert hat.

    • Christian Wöhrl

      Vielleicht geht es dir ja so wie mir, Aebby, und du würdest große Teile dessen, was du in einem grünen Wahlprogramm erhoffst, im Programm der Linken finden – hier ist der aktuelle Leitantrag, der mir beim Querlesen insgesamt sehr zugesagt hat: https://filebox.die-linke.de/index.php/s/RgyK9RnP9e2rXfY
      Nun dümpelt die Partei aber bei 3% rum (warum auch immer – darüber zu spekulieren würde wohl ziemlich ausufern). Insgesamt ist mir das alles einfach zu zersplittert. Eine ökosoziale Sammelbewegung aus linken Grünen, grünen Linken, dem vernünftigsten Teil der Piraten und vielleicht noch Volt, das wäre mal was, wo ich nicht nur aus Überzeugung Kreuzchen setzen, sondern wahrscheinlich auch selbst mitmachen würde.
      Re Frühjahr: Wenn es sich irgend einrichten lässt, freue ich mich sehr über Kaffee- oder auch Teebesuch 🙂

  • Aebby

    P.S. Angesichts des Datum wünsche ich Dir ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr. Einer meiner Vorsätze fürs neue Jahr lautet „ein Tässchen Kaffee oder Tee mit Christian trinken“ Ich werde voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte einen kurzen Rundtrip im Norden machen.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert