Randbemerkungen

Vermischtes mit ehrlicher Werbung

Fundstück in einer Küchen­schublade. Ich kann nicht mehr nach­voll­ziehen, bei welchem Wahl­kampf wir dieses Mitgebsel mal bekommen haben, aber es stammt trotz sehr altmodi­scher Anmu­tung schon aus der Ära fünf­stelliger Post­leit­zahlen (wie man auf der Rück­seite erkennt, wo der CDU-Kreis­verband Stor­marn als Urhe­berin ange­geben ist). Scheint jeden­falls echt zu sein, keine Satire, und dann muss man es wohl für unge­wollt ehr­liche Werbung halten: Wenn es brenzlig wird, haben wir nicht nur keinen Feuer­löscher im Angebot – wir zündeln auch gern mit

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Gelesen: Boris Palmer, Erst die Fakten, dann die Moral. Das habe ich in einem Rutsch durch­geschmökert und fand es mächtig inter­essant. Palmer kommt hier im Norden in der üblichen medi­alen Verkür­zung ja oft als grüner Rechts­außen-Buhmann an, aber in der Lang­form kann er seine Punkte gut verständ­lich machen, und dann ergibt sich doch ein deut­lich diffe­renzier­teres Bild. Werde wohl auch mal seine anderen Bücher ausleihen. 

(Erwähnens­wert wäre noch, dass ich es eigen­tüm­lich schwierig fand, das Buch zeit­lich einzu­ordnen. Des Rätsels Lösung: Es wurde 2019 veröf­fent­licht – deshalb waren mir die meisten großen Aufreger­themen noch mehr oder weniger deut­lich präsent, aber die Pandemie spielte natür­lich noch keine Rolle. Kein Wunder also, dass sich die Lektüre frisch und alt gleich­zeitig anfühlte …)

In diesem Kontext noch ein Link-Tipp: Warum die Klima­bewegung die Klassen­frage stellen muss, ein Inter­view mit Matthew Huber, Autor von Climate Change as Class War. Dass die wesent­lichen Konflikte und die wirk­samsten Hebel im Kampf gegen die Erdsystem­krisen weniger bei Fragen des mate­riellen Besitzes und Konsums, sondern eher bei der Verfü­gung über die Produk­tions­mittel zu verorten sind, würde vermut­lich auch Boris Palmer unterschreiben, in dessen o.g. Buch sich ein beson­ders lesens­wertes Kapitel um Identi­täts- vs. Klassen­politik dreht.

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Habt ihr euch schon mit der elektro­nischen Patienten­akte beschäftigt? In der Theorie ist das eine super Sache, und würde ich z.B. mehrere verschie­dene Medika­tionen benö­tigen oder irgend­eine gesund­heit­liche Beson­derheit haben, von der ich wollte, dass sie im Not­fall auch einer Ärztin bewusst ist, die mich noch nicht kennt, dann würde ich sie wahr­schein­lich auch haben wollen. Aber es ist halt nach allem, was darüber zu erfahren ist, digi­tale Infra­struktur nach klas­sisch deut­scher Art, also von der Sorte Scheunentor mit arg fili­granem Schließ­mecha­nismus. Daher habe ich dem Anlegen der ePA für mich sofort nach Zugang des Info-Schreibens wider­sprochen (das war sogar noch vor der Meldung, dass auch Google und andere große Sympathie­träger gern Zugriff auf die Gesund­heits­daten hätten – das hätte mir dann den letzten nötigen Schubs gegeben). Falls ihr auch noch ein biss­chen was drüber lesen wollt: Bei netz­politik.org gibt es einen Über­blick; und wenn ihr sie nicht haben mögt: Mike Kuketz führt in seinem IT-Security-Blog eine Liste der Wider­spruchs­formu­lare zahl­reicher Kassen.
Postscriptum 31.12.: Die neueste Wort­meldung von Carsten Linne­mann wäre even­tuell noch ein weiterer Grund, der ePA zu wider­sprechen. Als Reak­tion auf Magde­burg ein Register für alle psychisch Erkrankten in Deutsch­land – um erst mal alle unter General­verdacht zu stellen, die nicht einer wie auch immer defi­nierten Norm entsprechen? Wie schäbig, und wie geschichts­vergessen.

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Momentan schauen wir abends noch mal die feine Serie Heimat (Edgar Reitz, 1984) über das fiktive kleine Dorf Schabbach. Ist für mich zwar nicht Heimat, denn gewohnt habe ich im Huns­rück nie; aber wir waren als Kinder öfters mal tage­weise dort, weil da mütter­licher­seits viel Verwandt­schaft lebt (auch in Gehl­weiler, wo die Schmiede aus den Filmen steht). Und dabei freu’ ich mich mal wieder sehr, was für wunder­schöne Wörter es in den deutschen Mund­arten gibt. Da geht das halbe Dorf in den Wald nicht etwa, um Heidel­beeren zu pflücken, sondern zum Wehlen­brechen – wobei es sich im dortigen Platt eher wie Wähle­bräche anhört. Aber meine Lieb­lings-Phrase aus den Filmen, und die kenne ich genau so auch aus der Kind­heit (wahr­schein­lich war sie auch manches Mal an mich adres­siert), ist dieses halb spöt­tisch, halb zärt­lich dahin­­gesagte Ei, dau Flabbes! Das müsst ihr euch im Tonfall etwa so vorstellen wie Harry Rowohlt, wenn er als Christopher Robin sagt, „Dummer alter Bär!“ – viel liebens­werter kann eine nomi­nelle Belei­digung nicht klingen 🙂

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Noch ein paar Links zu Lesens- und Sehens­­wertem der letzten Woche, vielleicht habt ihr ja etwas Zeit zwischen den Jahren:

Ants vs. Humans: Putting Group Smarts to the Test – erstaunlich, wie gut Ameisen koope­rieren können (mit Videos)

Never Forgive Them – opulentes Stück über das verbrei­tete Gefühl, dass digi­tale Technik immer schlechter wird, und woher es kommt

Der Faschismus lernt, ist wendig, kommt immer wieder anders daher. Auch deshalb ist es so schwer, ihn mit ein­fachen Defini­tionen zu packen

Karsten Schwanke, Meteo­rologe ARD-Wetter­kompetenz­zentrum, über die Wetter­extreme im Jahr 2024 (Video, ca. 15 Minuten)

Der Grund allen Wohl­stands – wie gehen wir mit unseren Böden um?

6 Comments

  • Birte

    Ich gebe zu, ein Buch von Herrn Palmer zu lesen, war mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Ich gehöre zu denjenigen, die ihn für einen eher üblen Populisten halten.

    Danke für die vielen Links. Ich habe mir einige davon abgespeichert und werde sie abarbeiten.

    Dir und Deinen Lieben einen guten Jahreswechsel. Nächstes Jahr gibt es vermutlich viel zu tun…. Kommt gut rein.

    • Christian Wöhrl

      Das Palmer-Buch stand auch nicht auf meinem Wunschzettel, es kam eher überraschend zu mir. Hatte bisher einen ähnlichen Eindruck von ihm wie du und bin mir jetzt nicht mehr ganz sicher … 
      Oh ja, euch auch einen guten „Rutsch“, vor allem nicht zu stressig für die Katzen! Und nein, an Langeweile werden wir 2025 sicher nicht zu knabbern haben 🙂

      • Birte

        Unsere Katzen sind dank der massiven Dämmung unseres Passivhauses tiefenentspannt. Drinnen hört man fast nix.
        Bisher habe ich nicht wirklich über einen Widerspruch gegen die ePA nachgedacht. Aber die wäre wunderbar geeignet, wenn das von Herrn Linnemann geforderte Register für psychisch Kranke ernsthaft kommen sollte. Noch glaube ich nicht, dass er mit seiner Forderung durch kommt, andererseits traue ich Merz und Consorten so ziemlich alles zu.

        • Christian Wöhrl

          Das ist cool mit der Dämmung, bei uns hört man (auch mangels Rollläden) sehr viel vom mittlerweile heftigen Geballer, und die Gastkatze ist schon wieder nervös.

          Ich glaube auch nicht dran, dass so ein Register sofort käme, aber allein es ins Gespräch zu bringen ist unanständig. Merz lässt seine Entourage aus dauerempörten Wadenbeißerchen (Linnemann, Spahn u.a.) sehr systematisch die Grenzen des Sagbaren verschieben, und das finde ich eine brandgefährliche Taktik.

          Übrigens würde ich in eurer Situation vielleicht auch anders über die ePA denken, so wie ich vermutlich auch der Generation meiner Eltern nicht leichten Herzens einen Widerspruch empfehlen würde … Man kann sich das ja auch erst mal angucken und wohl auch später noch widersprechen.

  • Thore

    Beim gerade stattgefundenen 38. Chaos Communication Congress in Hamburg vom Chaos Computer Club war die ePA auch Thema.

    Zuerst mehr die praktischen Aspekte. Der Vortragende ist nicht nur Datenschützer sondern selber auch Arzt und kennt sich also vermutlich in beiden Fachgebieten aus. Sehr interessant:
    „elektronische Patientenakte (ePA) Made in Germany – Digitalisierung in der Medizin 2024“
    https://media.ccc.de/v/gpn22-389-elektronische-patientenakte-epa-made-in-germany-digitalisierung-in-der-medizin-2024#t=558

    Außerdem zur technsichen Sicherheit ein Vortrag.
    https://media.ccc.de/v/38c3-konnte-bisher-noch-nie-gehackt-werden-die-elektronische-patientenakte-kommt-jetzt-fr-alle

    Spätestens danach bleibt der Widerspruch alternativlos.

  • Klaus

    Mein alter Hausarzt hat die elektronische Akte als gut gemeint, aber schlecht gemacht eingestuft. Was helfe ihm eine Information über die genommenen Medikamente, wenn der Patient entscheiden könne, was in der Akte erscheint und was nicht?

    Abgesehen davon würde der bisherige EDV-Kram mit den e-Rezepten manchmal in der Praxis nicht funktionieren, manchmal nicht in der Apotheke …

    Ein Elend.

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