Lest Hickel!
Ein sensationelles Buch:
In einem fulminanten Rundumschlag zerlegt Jason Hickel die 500-jährige Geschichte des Kapitalismus in ihre Bestandteile und zeigt nicht nur auf, welche Probleme er mit sich bringt, sondern auch, dass er sich vieles von dem, was wir als seine Vorteile betrachten, um deretwillen wir die Nachteile überhaupt erst in Kauf nehmen, gar nicht selbst auf die Fahne schreiben kann. Hier bekommen alle ihr Fett weg, von René Descartes bis zu den Apologet*innen des Grünen Wachstums. Und obwohl mir vieles schon bekannt war, gab es doch immer wieder überraschende Momente; so zum Beispiel bei der Erklärung der Genese jenes Arbeitsethos, dem auch ich mich über Jahrzehnte nicht entziehen konnte und dem zufolge eine 40-Stunden-Woche „natürlich“ besser, vielleicht sogar moralischer ist als nur 20 Stunden wöchentlicher Erwerbsarbeit. In Wirklichkeit ist dabei aber gar nichts natürlich, sondern es leitet sich aus der menschgemachten, von uns nur lange genug verinnerlichten Logik von Wachstumszwängen ab – wie auch das gesamte Buch sehr gründlich aufräumt mit der Vorstellung, das kapitalistische Wirtschaften entspreche einem wie auch immer gearteten Wesen des Menschen. Oder in den Worten des Autors:
Das Problem hier ist nicht die „menschliche Natur“. Das Problem ist die Tatsache, dass wir ein politisches System haben, das ein paar Leuten die Macht gibt, für ihren eigenen privaten Profit unsere gemeinsame Zukunft zu sabotieren. […] Man hat uns lange Zeit erzählt, Kapitalismus und Demokratie seien Teile eines Gesamtpakets. In Wirklichkeit sind die beiden möglicherweise inkompatibel. Die Besessenheit des Kapitals mit immerwährendem Wachstum auf Kosten der lebendigen Welt widerspricht den Werten der Nachhaltigkeit, an die die meisten von uns glauben. […] Mit anderen Worten: Der Kapitalismus hat eine antidemokratische Tendenz, und die Demokratie hat eine antikapitalistische Tendenz. (Hickel 2020/3, S. 276–279)
Dankenswerterweise bleibt „Weniger ist mehr“ nicht bei der Problemanalyse stehen, sondern skizziert zumindest in Umrissen eine gemeinwohlorientierte Postwachstumsökonomie, und in diesen Abschnitten kommt mir vieles aus eigenen Aktivitäten und Plänen in der Klimagerechtigkeitsbewegung zwar utopisch und doch schon bekannt und vertraut vor – es wird sehr plastisch greifbar, wie viel besser unsere Welt sein könnte, wenn wir nicht so sehr auf Wachstum um buchstäblich jeden Preis fixiert wären.
Wenn ihr in diesem Winter nur noch ein Sachbuch lesen wollt, lest dieses! Und lest es – möglichst noch vor der Bundestagswahl – nicht nur selbst, sondern gebt es dann auch an Leute weiter, die vielleicht eher konservativ orientiert, aber noch nicht ideologisch verbohrt sind: Gerade mit dem Blick auf viele Aufreger-Themen des aktuellen Wahlkampfs könnte die Lektüre manche vermeintliche Gewissheit erschüttern und Horizonte erheblich erweitern.
2 Comments
Aebby
Gekauft! Danke für den Tipp, ich hege schon lange den Verdacht, dass der Kapitalismus eine cherry-pickende Mogelpackung ist. Leider habe ich nicht die Zeit und Energie da auch noch viel zu recherchieren – ich denke da hilft das Buch.
Christian Wöhrl
Cherrypicking trifft es gut 🙂 Dazu sollte das Buch wirklich ein Kompendium sein.