Naivität

Neulich erwähnte ich, dass mir ⇢ Naivität grundsätzlich sympathisch ist, solange sie nicht risikoblind wird. Wie wichtig diese einschränkende Bedingung ist, wird mir immer wieder deutlich angesichts der medialen Auseinandersetzung mit der Lage in den USA – da habe ich nämlich ziemlich oft den Eindruck, dass immer noch nicht recht ernst genommen wird, was dort passiert. Ein Beispiel vom Wochenende: Die taz hatte ⇢ unter dem Titel „Der dunkle Königsmacher“ ein Portrait von Curtis Yarvin, der als Vordenker der dortigen Entwicklung hin zu einer Monarchie / Diktatur gilt. Darin heißt es kurz vor Schluss: „Das Ziel des Coups ist laut Yarvin die Überführung in ein besseres Regierungssystem für alle Bürger, besser, weil kompetenter. Er sieht es als freudvolle Revolution und ist fest davon überzeugt, dass die Bürger ihrem neuen Herrscher zujubeln werden, wenn sie erst sehen, welches Glück er ihnen bringt.“
Nun hab ich mich noch nicht allzu intensiv mit Yarvin beschäftigt und wage nicht zu beurteilen, ob er das wirklich denkt; aber zumindest für einige der bekannteren US-Akteure, die als von Yarvin beeinflusst gelten (Peter Thiel, Elon Musk) halte ich Zweifel, ob es ihnen wirklich um ein besseres Regierungssystem für alle Bürger geht, für dringend angebracht. Vielmehr sollten wir davon ausgehen, dass der nicht bloß vorübergehende Kollaps etlicher Vitalfunktionen des Staates und sukzessive Elend und Tod für möglicherweise viele Millionen Menschen aus der Sicht zynischer, raffgieriger Gestalten, die sich selbst für Herrenmenschen halten, kein Fehler, sondern ein bewusst herbeigeführter, hoch willkommener Effekt ihrer Maßnahmen ist. Denn wer in einer Gesellschaft lebt, in der die Universalität der Menschenrechte nicht als garantiert erlebt wird, in der so gut wie niemand vor Willkür geschützt ist und jede*r jederzeit mit dem Verlust von Job, Gesundheit und Leben rechnen muss, die*der lässt sich viel einfacher ausbeuten und traut sich nicht, lästige Forderungen nach angemessenem Gehalt, demokratischer Teilhabe oder auch Klimaschutz zu stellen.

Und auch wenn die Lage in Deutschland und Europa mit den Zuständen jenseits des Atlantik sicher nicht vergleichbar ist: Ein paar Entwicklungen sollten uns auch hier Anlass zur Sorge geben. Für mein Empfinden wird zum Beispiel viel zu wenig beachtet, wie leichtfertig in der Politik, und längst nicht mehr nur am rechtsextremen Rand, für Teile der Bevölkerung elementare Rechte infrage gestellt werden1, was sich etwa in Bestrebungen manifestiert, das Asylrecht zu schleifen oder das Bürgergeld auch komplett streichen zu können.
Hier hat mich neulich die Lektüre von Harald Welzers „Täter“2 noch mal neu sensibilisiert: Wenn man es als vorgeblich christlichen Werten folgender Mensch vor sich selbst rechtfertigen kann, lieber den Ärmsten das Existenzminimum wegzunehmen, als Höchstreichtum zu besteuern, und Menschen lieber im Mittelmeer ertrinken zu lassen, als sie nach Europa einreisen zu lassen, dann muss da wieder ein Prozess der Verschiebung von Wertvorstellungen im Gange sein. Bei Welzer, der genau das für die NS-Zeit beschreibt, heißt das „partikulare statt universale Moral“, und es wird da sehr plastisch deutlich, dass der Referenzrahmen dessen, was als moralisch geboten oder auch nur akzeptabel erscheint, nur um eine Winzigkeit verschoben werden muss, um potenziell katastrophale Folgen zu haben.
Zu glauben, eine Entwicklung wie vor 90 Jahren sei hier nicht mehr möglich – das wäre nun wirklich sträflich naiv.
- (wobei mir zumindest diskussionswürdig erscheint, ob genau das bereits eine Zugehörigkeit zum rechtsextremen Rand begründet) ↩︎
- Untertitel: „Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“. Definitiv keine leichte Lektüre, im Gegenteil – aber sehr augenöffnend.
Siehe außerdem Hendrik Cremer, „Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen“ für eine eindrückliche Analyse der Gefahr, die von der AfD ausgeht und davon, dass sie von Politik und Medien nicht so gemieden wird, wie sie sollte. ↩︎


4 Comments
Der Wilhelm
Ich kenne zwar die Zitierten Autoren nicht (bzw. habe hier zum ersten MAl über sie gelesen), ab was Du zitiert hast, scheint mir durchaus dem zu entsprechen, was eigentlich jeder halbwegs denkende und Schlüsse ziehende Mensch gerade zu den Enticklungen in den USA (und hier bei uns) mit bekommen könnte:
Dass da viele Freiheiten einfach deshalb den Bach runter gehen, weil man den rechten Rattenfängern mehr glaubt, als dem eigenen gesunden Menschenverstand.
Konkret, zu den USA:
So, wie sich Trump benimmt (und nach den Erwartungen, die er vor der Wahl geschürt hat) würde ich es auch nicht mehr weiter verwunderlich finden, wenn er sich mithilfe seiner superreichen Speichellecker selbst zum Kaiser ernennen würde.
Denn den Weg dahin bereitet er ja gerade und findet dazu noch Unterstützung bei Menschen wie denen in Minnesota, die Kritik an ihm als psychische Erkrankung brandmarken wollen. Zwangsbehandlung vermutlich inklusive – ein paar Elektroschocks oder eine Trepanation schaden ja nicht.
Und immer wieder frage ich mich, warum da nicht der grosse Widerstand losbricht, jetzt, bevor es wirklich zu spät ist?
Auch hier bei uns ist die Gefahr ja längst bekannt, zumal wir alle das Beispiel von vor 90 Jahren kennen und die Zeichen sehen, wenn wir nur wollen. Und trotzdem gab es bei der letzten Wahl den Rechtsrutsch (und vermutlich auch die Sehnsucht nach dem einen starken Mann, der alles zum Guten richten wird)
Immerhin : wir können wohl froh sein, dass es nicht ganz so schlimm kam wie befürchtet – und wir können nochr hoffen, dass der neue Kanzler nicht alles in die Grütze reitet und damit noch mehr Unzufriedenheit erzeugt.
Christian Wöhrl
Apropos Hoffnungen: Ich hoffe ja auch (noch), dass das aktuelle Beispiel USA abschreckend genug wirkt auf Leute, die bisher daran glaubten, wenn eine kleine Geldelite den Staat möglichst gründlich ausplündert, sei das auf magische Weise gut für alle …
Aebby
Ich bin ein wenig spät dran. Zur Idee Yarvins möchte ich noch etwas anmerken bzw. einen Vergleich zur Magna Carta ziehen. Es gibt immer eine schönfärberische Sicht, die leider immer ausblendet welche Menschen mit „Volk“ gemeint sind. In der Ausstellung der Magna Carta gibt es viel TamTam um die Geburt der Demokratie, es wird aber geflissentlich „übersehen“, dass es sich um eine Vereinbarung zwischen dem König und dem Adel handelte. Ähnliches dürfte auch für Yarvin gelten. Hier geht es um eine Emanzipation der Reichen gegenüber dem Staat, die „working class“ ist da nicht inkludiert.
Christian Wöhrl
Interessanter Gedanke! In Ansätzen seh’ ich das halt auch hier – wenn zum Beispiel die Mobilität der Reichen schamlos subventioniert wird und für bezahlbaren ÖPNV angeblich kein Geld da ist.
In eine ähnliche, vielleicht noch schlimmere Richtung geht’s ja auch momentan mit dem Trend, dass Transparenz für Regierende ein Auslaufmodell ist (Pläne zum IFG), für unsereins aber gefordert wird (geplanter ePA-Zwang nebst Zugriff der Polizei auf Gesundheitsdaten und Auswertung per Palantir), während es in einer funktionierenden Demokratie genau umgekehrt sein sollte damit, wer wem Rechenschaft schuldet.
(Hier gibt’s übrigens keine Zeitbegrenzung für Kommentare :-))