Randbemerkungen

Teil des Programms

Natürlich können und sollten wir uns über die immer offener zu Tage tretenden charak­terlichen Defizite des wohl unwür­digsten Bundes­kanzlers seit Kiesinger aufregen. Aber wir sollten ihm und seiner Regie­rung nicht den Gefallen tun, die Causa Stadt­bild und ähn­lichen rassis­tischen Gedanken­schmutz jeweils nur iso­liert zu betrachten. Es sind viel­mehr logische, notwen­dige Bestand­teile des Gesamt­programms, zu dem neben Spal­tung, Ausgren­zung und dem Schüren von Hass auf vermeint­lich „Andere“ eben auch sämt­liche anderen Unsäg­lich­keiten von Schwarz-Rot gehören, als da wären

  • Bürgergeld-„Reform“ bis hart an die Grenze des verfas­sungs­mäßig Erlaubten oder gern auch darüber hinaus;
  • Infrage­stellen etlicher gesell­schaft­licher Errungen­schaften der letz­ten Jahr­zehnte, etwa Tages- und Wochen­arbeits­zeiten oder Leistungs­katalog der Kranken­kassen;
  • Beibe­haltung sämt­licher noch so klima­schädlichen Subven­tionen im Verkehr und über­mäßiger Ausbau der Gaskraft­werke, alles zum einsei­tigen Vorteil der fossilen Energie­wirt­schaft und zum lang­fris­tigen Nach­teil der deut­schen Volks­wirts­chaft und Bevöl­kerung;
  • penetrante Weige­rung, die ausge­setzte Vermögen­steuer verfassungs­konform wieder einzuführen;
  • sowie natürlich die nahezu voll­ständige Abwesen­heit von Maßnahmen zum Schutz von Klima, Arten­viel­falt und den übrigen Vital­funk­tionen des Planeten im Regie­rungshandeln.1

Das alles sind Puzzle­teile; und wenn sie zusammen­gesetzt werden, sehen wir einen Entwurf der Welt, der sich von der dysto­pischen Vision eines Project 2025 jenseits des Atlantik nur in Nuancen unter­scheidet. Es ist eine Welt, in der die Rück­sichts­losesten unter den Reichsten weiterhin ihrer obszönen Habgier frönen, wohl wissend, dass sie immer schneller darauf hinwirken, den größten Teil der Erde unbe­wohnbar zu machen – aber egal: Selbst wenn die eine Villa in Feuer­sturm oder Hoch­wasser drauf­geht, zieht man halt in eine der anderen. In dieser Welt darf es keinerlei Solida­rität geben; die ärmsten zwei Drittel, auf irgend­welchen Konti­nenten, wo man sowieso niemanden kennt, dürfen herz­lich gern möglichst schnell an den Folgen der Klima­krise krepieren, und die Übrig­geblie­benen müssen so gründ­lich in existen­zieller Angst gehalten werden, dass sie jeder­zeit bereit sind, sich zu Diensten des Geld­adels versklaven zu lassen.

Ernsthaft: Das ist die Welt, auf die Fried­rich Merz hinar­beitet2 – so wie derzeit erschre­ckend viele andere Staats- und Regierungs­chefs. Wollen wir das mehr­heit­lich, wirk­lich? Oder wollen wir viel­leicht doch lieber eine Welt, in der nicht wenige alles, sondern alle genug haben und in der man einander ange­sichts drohender Kata­strophen gegen­seitig beisteht, statt sich dazu aufhetzen zu lassen, immer die jeweils Nächst­schwächeren vor den Bus zu schubsen? Noch hätten wir’s in der Hand …

***

Nachtrag, 21.10.: Um hier keine Miss­verständ­nisse zu fördern – ich könnte von mir selbst nicht guten Gewis­sens behaupten, frei zu sein von jenem Alltags­rassismus, wie er in der „Stadt­bild“-Debatte zum Ausdruck kommt. In einem deut­schen Stadt­viertel unterwegs zu sein, in dem sich die Mehr­zahl der Menschen um mich herum in mir unbe­kannten Sprachen unter­hält, finde ich sogar aus meiner privi­legierten Männer­perspek­tive die meiste Zeit mindes­tens befremd­lich.3 Aber zumin­dest bin ich mir des Umstands bewusst, dass dabei antrai­nierte und ⇢ durch medialen Bias verstärkte Vorur­teile zum Tragen kommen und die subjek­tive Bedro­hungs-Wahr­nehmung hier ⇢ wenig mit den realen Verhält­nissen zu tun hat4 – weshalb selbst­verständ­lich auch dann, wenn sich das Stadt­bild ausschließ­lich aus friedrichs­ähnlichen Anzug­trägern rekru­tierte, noch kein nennens­wertes Problem gelöst wäre. (Aber um Problem­lösung geht es ja auch gar nicht, siehe oben.)


  1. Und bestimmt hab ich noch etliches vergessen – was dann teils daran läge, dass ich derzeit wieder phasenweise den Nachrichtenkonsum zum Selbstschutz drastisch reduziere, teils aber auch daran, dass diese Regierung besonders talentiert im Umgang mit Nebelkerzen ist: Sobald ein echter Missstand, deren es an jeder Ecke etliche gibt, in der öffentlichen Wahrnehmung aufzupoppen droht, spricht die fachfremde Vertretungskraft im Kulturstaatsministerium über Sprache oder der Bundesmetzgereiminister über Wurst, und schon ist aus Berliner Perspektive die Welt wieder in Ordnung, weil sich alle über Kleinscheiß aufregen. ↩︎
  2. sofern man es über sich bringt, das, was Merz tut, mit dem Begriff Arbeit zu adeln ↩︎
  3. evtl. bin ich auch nur zu selten in der großen Stadt? ↩︎
  4. nachzuhören in der letzten Minute des verlinkten Interviews ↩︎

3 Comments

  • Birte

    Gut zusammengefasst. Es wäre Zeit, Merz mal deutlich die rote Karte zu zeigen, aber das passiert nicht. Liegt es daran, dass die meisten Menschen eben keine Bürgergeldempfänger*innen sind, keinen Migrationshintergrund haben? Spätestens der Klimawandel betrifft uns aber alle, wobei ich auch finde, dass wir gegen die weitere Spaltung der Gesellschaft aufstehen müssen. Sonst fliegt uns hier bald alles um die Ohren.
    Immerhin haben wir es in Hamburg geschafft, dem Klimawandel wieder mehr Gehör zu verschaffen, aber das reicht eben nicht.

  • Holger

    Das Schlimme dabei ist auch, dass die Gesellschaft gegeneinander ausgespielt wird und die Leute, die schon eher wenig Geld haben noch dazu verleitet werden, für diese sie auch selbst schädigende Politik zu stimmen nur weil man mit Migranten und Bürgergeldempfängern noch schwächere hat, auf die man endlich herabsehen kann. Es ist so widersinnig, aber es funktioniert leider so gut.

  • Christian Wöhrl

    Stimmt, das Spalten und Gegeneinander-Ausspielen ist ja schon seit Jahrhunderten ein Rezept mit Erfolgsgarantie …
    Und wie nur kann man den (bloß theoretisch sehr offensichtlichen) Umstand, dass Rechtsaußen-Politik für die Mehrzahl derer, die sie unterstützen, eher schädlich wäre, der Zielgruppe verständlich machen? Da hält man all die Jahre seit der Schulzeit so große Stücke auf Rationalismus und Diskussionskultur, aber wenn es drauf ankommt, sind damit keine Punkte zu machen … Ich bin da wirklich ein bisschen desillusioniert.

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