Begrenzt aussagefähig
Mir fällt grade wieder auf, dass es unglaublich schwierig ist, wirklich aussagefähige Statistiken zum Pandemiegeschehen zu finden. Ja, das Internet hat faszinierende Quellen zu bieten, etwa die Themenseiten der WHO oder die hervorragenden grafischen Aufbereitungen von Reuters.
Aber was bedeutet das alles? Nun bin ich kein geschulter Statistiker, aber vermutlich habe ich schon ein bisschen Verständnis dafür, wie man Tabellen liest. Und dann bilde ich Summen und Verhältnisse, und dann fallen mir Dinge auf wie diese:
Europa hat knapp 10 Prozent der Weltbevölkerung, aber mehr als 25 Prozent aller der WHO bekannten Covid19-Toten. Derzeit entfallen sogar knapp 50 Prozent aller aktuellen Infektionen weltweit auf unser kleines Europa. Und noch krasser im vordergründigen Missverhältnis: Südkorea mit rund zwei Drittel der Bevölkerungszahl Deutschlands – bei mehr als doppelt so hoher Bevölkerungsdichte – hat bis heute weniger als 500 Todesopfer gemeldet; Vietnam (20% mehr Einwohner als D, etwas höhere Dichte) gerade einmal 35. Diese zwei sicher sehr unterschiedlichen Länder (keines davon kenne ich aus eigener Anschauung) nur exemplarisch für Staaten, die in den Covid-Listen auf der durchschnittlichen deutschen Zeitungs-Homepage eher nicht auftauchen.
Nun sind all diese Zahlen, völlig klar, nur begrenzt vergleichbar. Die Erfassung der Fallzahlen dürfte von Land zu Land eklatant unterschiedlich sein, methodologisch wie ideologisch begründet. Und die Lebensverhältnisse sind zwischen Europa und Asien sicher auch nicht vergleichbar.
Und dennoch gehen mir angesichts solcher Statistiken Gedanken durch den Kopf wie: Könnte es sein, dass das europäische Modell der Betonung individualistischer Lebensentwürfe zur Bekämpfung einer Pandemie nicht optimal geeignet ist? Aus westlicher Perspektive werden asiatische Kulturen ja gern klischeehaft als eher ameisenähnlich dargestellt (was ich, wie angedeutet, aus eigener Anschauung nicht beurteilen kann). Möglicherweise ist ja eine Denke, die den Einzelnen stärker dem Kollektiv unterordnet, als wir es tun, besser in der Lage, auf so eine abstrakte Gefahr zu reagieren?
(Was ich bitte auf gar keinen Fall als generelles Plädoyer für mehr Kollektivismus verstanden wissen möchte: Derzeit lese ich beruflich bedingt unter anderem Jost Hermands Der alte Traum vom neuen Reich, und das zeigt sehr deutlich auf, welch üble Blüten der tragen kann …)
5 Comments
Detlef
https://www.bpb.de/apuz/weltgesundheit-2020/318300/variationen-der-pandemiebekaempfung
Moin Christian, unter dem Link findest Du einige Hinweise auf prinzipielle Unterschiede in der
Herangehensweise. In Südostasien sind besonders die Länder sehr erfolgreich, die (schlechte) Erfahrungen
bei SARS/MERS gemacht haben. Die Bemerkungen zu Schweden sind bereits überholt.
Liebe Grüße
Detlef
cwoehrl
Moin Detlef,
dir ist schon klar, dass ich bei diesem Thema speziell auf deine Reaktion gehofft habe?
🙂 merci beaucoup!
cwoehrl
Das ist ein sehr interessanter Artikel bei der BPB. Spannend finde ich diese Aussage: Eine Nachverfolgung von Kontakten, wie sie in Südkorea praktiziert worden ist, wäre in Schweden, Großbritannien oder in anderen Staaten Nord-, West- und wohl auch Südeuropas kaum durchsetzbar gewesen. Das würde ich mir ausgearbeiteter wünschen: An welchen / wessen Widerständen würde die Nachverfolgung à la Südkorea, also effektiveres, aber wohl auch invasiveres Tracking, bei uns scheitern – am existierenden Datenschutz-Niveau, an den Befindlichkeiten der Bevölkerung (was ich am wenigsten glauben würde) oder ganz banal an personeller und technischer Unterversorgung der zuständigen Ämter?
kopfundgestalt
Habe den BPB-Artikel nur überflogen, aber das ist generell eine gute Quelle, wo ich auch schon anderes nachgelesen hatte.
cwoehrl
Ich finde das auch eine klasse Institution. Bin ja langjähriger Fluter-Abonnent, obwohl längst nicht mehr in der Kernzielgruppe, und man kann da auch eine Menge hoch interessanter Bücher zu eher symbolischen Preisen beziehen.