Brennweiten-Schummelei
Dass moderne, aufwendig (und nicht gerade symmetrisch) konstruierte Foto-Objektive nicht über den gesamten Fokusbereich dieselbe Brennweite haben, ist nichts Neues. Wenn etwa ein Zoom am langen Ende mit 300 mm angegeben ist, gilt das für Schärfe auf Unendlich; an der Nahgrenze sind es dann je nach Bauart oft eher 200 mm. Aber auch bei Festbrennweiten gibt es diesen Effekt, den manche Kameras indirekt sogar anzeigen: Meine Nikon-Spiegelreflex zeigt z.B. für ein Makroobjektiv mit elektronischer Blendensteuerung und Offenblende 2,8 an der Nahgrenze – Maßstab 1:1 – und bei größtmöglicher Öffnung Blende 5 an. Würde die Brennweite gleich bleiben, müsste hier Blende 5,6 angezeigt werden, denn der beim Fokussieren wirksam werdende Verlängerungsfaktor beträgt (1+M)^2, also volle zwei Blenden – dass es nur etwas mehr als anderthalb sind, liegt eben an der kürzeren Brennweite im Nahbereich bei gegebenem Durchmesser der Blendenöffnung.
Lange Vorrede, um auf eine merkwürdige Beobachtung zu kommen, die ich an meinem modernsten Objektiv gemacht habe:
Für die spiegellose Sony, die ich primär für meine Spiegelreflex-Objektive aus den 80ern und früher gekauft habe, um mit all dem „Altglas“ angesichts nachlassender Sehschärfe die Vorteile eines elektronischen Suchers nutzen zu können, habe ich seinerzeit auch eine Autofokus-Festbrennweite erworben; nämlich ein 35-mm-Makroobjektiv, einen Typus, den es für Spiegelreflex überhaupt nicht gibt. Der verbindet zwei mir wichtige Eigenschaften: meinen Lieblings-Bildwinkel um 60 Grad als quasi kurzes Normalobjektiv und Makrofähigkeit (nur bis M 1:2, aber das reicht auch meistens).
Aber das mit dem Bildwinkel eines 35ers ist Theorie. Beim Fotografieren damit im Nahbereich hatte ich immer das Gefühl, dass irgendwas komisch-weitwinklig ist, und heute habe ich’s mal vergleichend ausprobiert:
Fürs linke Bild habe ich ein Nikon Series E 2,5/35 mit einem zweilinsigen Nahvorsatz von etwa 5 Dioptrien kombiniert und bis an die Nahgrenze fokussiert. Rechnerisch ergibt diese Kombination bereits bei Unendlich eine Systembrennweite von knapp unter 30 mm, das linke Bild dürfte also einer effektiven Brennweite von ca. 28 bis 29 mm entsprechen. — Das rechte Bild (die Kamera und das als Motiv dienende Objektiv wurden relativ zueinander nicht bewegt!) ist mit dem 35er Makro ohne weiteres Zubehör aufgenommen, und wenn ich annehme, dass das linke Bild 29 mm Brennweite entspricht, dann sind das rechts (nicht geschätzt, sondern gerechnet) nur noch 24 mm.
Effektiv 24 mm bei nominell 35 mm, und das ist für das Makro noch nicht mal an der Nahgrenze, damit könnte man noch ein gutes Stück näher ran – das finde ich schon ziemlich krass, geradezu Etikettenschwindel. Wenn ich einen diagonalen Bildwinkel von gut 60 Grad kaufe, erwarte ich einfach nicht, dass der sich im Nahbereich auf 80 bis 90 Grad erweitert …
4 Comments
derbaum
das muss ich erst mal sacken lassen…
Bernhard
Schwere theoretische Kost, lieber Christian
LG Bernhard
Christian Wöhrl
Ach so? Eigentlich hatte ich ja erwartet, dass du, lieber Bernhard, die Erklärung für die Brennweiten-Verkürzung locker aus dem Ärmel schüttelst 🙂 Ich kann ja nur vermuten, dass sich (anders als bei Balgenkameras) beim Fokussieren nicht das gesamte Linsensystem gleichmäßig bewegt, sondern einzelne Gruppen gegeneinander verschoben werden …
Gerhard
Sehr spannend, muss ich morgen mal gucken
..