Falsch abgebogen
Drei Schlagzeilen aus dieser Woche:
Entrechtung an der Grenze – Wie die geplante Vereinheitlichung des europäischen Asylrechts den individuellen Anspruch auf Schutz vor Verfolgung aushöhlt (hier);
FDP-Chef will notfalls Grenzschutz mit Zäunen (hier);
Wissing will Autobahnen schneller bauen – auch für den militärischen Ernstfall (hier).
Das sind leider vollkommen logische, zwingende Folgen eines Weltbildes, das ansonsten Sätze hervorbringt wie „Bevor wir über soziale und ökologische Ziele in dieser Gesellschaft diskutieren, müssen wir uns vergewissern, dass unser wirtschaftliches Fundament stabil ist“ (auch diese Woche, auf Christian Lindners Twitter-Account – Nachtrag 6.5.: in kommentierter Wiedergabe hier). Wenn ich die nationale Wirtschaft jeglichem Menschen- und Klimaschutz vorziehe, als habe es seit den 1960er Jahren keinerlei wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn mehr gegeben, dann muss ich mich natürlich mit Grenzziehungen und Gewalt gegen all diejenigen verteidigen, zu deren existenziellem Nachteil ich mein Wirtschaftswachstum durchpeitsche.
Schon klar: Bei den letzten Bundestags- und Europawahlen wurden wir nie ausdrücklich gefragt, ob wir, statt uns global endlich mal um die lang überfällige Klimagerechtigkeit zu bemühen, nicht doch lieber unseren Kleinkontinent zu einer Festung ausbauen möchten, um es uns in einer heißeren Welt erträglich einzurichten und noch ein paar Jahre länger zu überleben als die übrige Menschheit. Trotzdem ist diese Entwicklung demokratisch legitimiert. Denn wir konnten, nein, wir mussten wissen, worauf es hinausläuft, wenn Wirtschaft und Wachstum priorisiert werden – und an dieser Absicht hat keine der großen Parteien Zweifel gelassen.
Ich will das nicht. Ich sehe absolut keinen Wert und Sinn darin, aus Europa ein Luxus-Ghetto zu machen und all jene draußen zu halten, die nicht den richtigen Pass, die richtige Religion und die richtige Hautfarbe haben. Oh, und natürlich die richtige sexuelle Orientierung … noch so eine Grusel-Meldung dieser Woche: CSU fordert Drag-Verbot (hier) – was nicht ins eigene enge Weltbild passt, muss unsichtbar gemacht werden.
Wohin die deutsche und die europäische Politik hier steuern, das ist auf so vielen Ebenen das Gegenteil von dem, was ich mir unter Menschlichkeit vorstelle. Und noch weigere ich mich zu glauben, dass die tatsächlichen Ziele solcher Politik gesellschaftlich mehrheitsfähig sein könnten; ich weiß bloß immer weniger, wie ich damit umgehen soll. Wie viel weiter müssen wir noch fahren, bis auch die Letzten merken, dass wir falsch abgebogen sind?
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(Na ja, dieses Wochenende merkt sowieso kaum jemand was, denn voraussichtlich wird – noch so eine fragwürdige Priorität – ein signifikanter Teil der Menschheit vor die Bewegtbildempfangsgeräte getackert sein davon, dass Kalle in England einen neuen Hut bekommt …)
2 Comments
Gerhard
Es gibt mind. zwei Parteien, die wollen, daß alles so bleibt wie es ist: Keine Einschränkungen jedweder Art. Wenn es zu heiß wird, helfen Technologien. Aber halt: Es wird ja nicht zu heiß, alles normal, das Klima. Und dann wird „vorgerechnet“, daß alle Maßnahmen, das Klima zu schützen, nix bringen, nur Geld verschleudern.
Man bleibt da nur ernüchtert zurück.
Christian Wöhrl
Da sagste was, von wegen alles normal … Man gewöhnt sich so schnell an Änderungen – neulich las ich: Wenn uns heute ein Frühling ungewöhnlich kühl und feucht vorkommt, dann ist ziemlich wahrscheinlich, dass das in unserer Kindheit und Jugend ein durchschnittliches, vielleicht sogar warmes Frühjahr war.