Wahrhaftigkeit als Auslaufmodell
Wahrhaftigkeit – so ein schönes Wort, phonetisch wie inhaltlich. Und so altmodisch: Denn als relevante Kategorie der politischen Kommunikation hat die Wahrhaftigkeit ausgedient, und die Lüge ist salonfähig geworden.
Nun war die Politik wohl nie als besonders ehrliches Geschäft bekannt; aber spätestens mit Donald Trump hat ein sehr spezieller Typus seinen Siegeszug angetreten, nämlich der des pathologischen Lügners, der generell nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheidet, sondern nur noch zwischen Aussagen, die ihm nützen oder eben nicht. Doch während sich dieser Spuk auf der anderen Seite des Atlantiks inzwischen (vorerst?) wieder erledigt hat, nimmt die Sache in Europa gerade erst Fahrt auf.
Besonders deutlich zu sehen ist das bei unseren britischen Nachbarn, die sich einen Premierminister mit ähnlich abenteuerlichem Verhältnis zur Wahrheit leisten, wie es zuvor der Kollege in den USA zur Schau stellte. Dass das nicht originell, sondern brandgefährlich ist, sollte klar sein. Aber auch bei uns hat die Wahrhaftigkeit einen zunehmend schweren Stand: Zwar werden oberflächliche Unehrlichkeiten wie die von Annalena Baerbock über Wochen mit moralisierendem Furor hochgejazzt, als gebe es nichts Wichtiges auf der Welt, doch auf der Gegenseite darf der Mitbewerber der CDU ums Kanzleramt wiederholt und in sehr viel gravierenderen Dimensionen lügen, dass sich die Balken biegen (Quellen, exemplarisch: 1 – 2 – 3), ohne dass es seiner Beliebtheit bislang erkennbar Abbruch täte.
Wie kann so etwas sein? Wohl keine Generation vor uns hatte ähnlich gute Werkzeuge zur Hand, Fakten zu prüfen und von Lügen zu unterscheiden, man müsste sich nur dafür interessieren. Ist Wahrhaftigkeit als solche heute nichts mehr wert? Und wissen diejenigen, die notorischen Lügnern die Treue halten, nur zu gut, was Sache ist, oder wollen sie es bequemerweise lieber nicht wissen – weil das bedeuten würde, sich mit womöglich unbequemen Fakten auseinandersetzen zu müssen?