Probleme lösen. Ein Rant
Am Montagmittag notierte ich auf Mastodon1 Folgendes:
So. Lasst uns für einen Moment annehmen, die demonstrative Härte unseres aktuellen Kanzlerdarstellers2 setzt sich durch und wir schieben, quasi über Nacht, wirklich alle Menschen ab, die wir nach geltendem Recht abschieben dürfen:
Dann haben wir auf einen Schlag 54.330 Menschen weniger im Land (unmittelbar Ausreisepflichtige, 1. Halbjahr 2023, Quelle), das entspricht pro bundesdeutscher Gemeinde ziemlich exakt FÜNF Personen.
Welche Probleme genau wollten wir damit lösen?
Dabei ist mir klar, dass es hier nicht um Problemlösung geht, zumindest nicht um das Lösen gegenwärtiger Probleme, seien sie gefühlt oder auch real. Der eigentliche Sinn dieser Übung dürfte erstens Abschreckung sein, Wie sorgen wir dafür, dass Deutschland für Menschen auf der Flucht möglichst unattraktiv wird?, und zweitens natürlich Wildern auf dem Terrain der AfD, in der empirisch vollkommen unbegründeten Hoffnung nämlich, dass durchs platte Nachplappern faschistischer Talking Points die Originalfaschisten weniger Zuspruch bekommen.
Das alles ist auf so vielen Ebenen erbärmlich.
Weltweit waren voriges Jahr rund 108 Millionen Menschen gezwungen, außerhalb ihres jeweiligen Heimatlandes zu leben – das sind rund doppelt so viele wie noch zehn Jahre zuvor, und wenig spricht dafür, dass dieser Trend sich demnächst umkehrt, eine weitere Verstärkung ist weitaus wahrscheinlicher. Davon lebten rund 2,1 Millionen in Deutschland, Ukrainer:innen eingeschlossen,3 also eine migrantische Person auf 40 Ureinwohner. Klingt viel? Nun, im Libanon war 2022 jede siebte Person ein:e Migrant:in, auf Aruba sogar jede:r sechste. (Alle Zahlen in diesem Abschnitt aus den Global Trends des UNHCR 2022.)
Spätestens bei diesem Vergleich sollte sich Deutschland, eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt, in Grund und Boden schämen. Und dazu kommt ja noch, dass wir nicht nur zu den reichsten Ländern des Planeten gehören, sondern dank früher und dann sehr gründlicher Industrialisierung auch zu denen, die den größten Beitrag zur Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre geleistet haben. Surprise: Die dadurch ausgelöste Klimakrise gehört bereits heute zu den wichtigsten Triggern von Migration und wird sie noch deutlich verschärfen. Und hier jammern wir rum, dass wir an der Grenze unserer Leistungsfähigkeit angekommen sind?
Was damit wohl eher gemeint ist: dass an unserem aktuellen, im Weltmaßstab drastisch überhöhten Lebens- und insbesondere Konsumstandard keinesfalls gerüttelt werden darf, statt ihn endlich auf ein global vertretbares Niveau zu begrenzen.4 Um diesen faktisch teils im globalen Süden zusammengeklauten, verschwenderischen, destruktiven Wohlstand und um unseren Unwillen, ihn fair zu teilen, geht es in Wirklichkeit, wenn in Deutschland über die Belastungen durch Migration lamentiert wird.
Oder im Klartext: Wer das Pech hatte, außerhalb Mitteleuropas oder einiger anderer privilegierter Fleckchen auf die Welt zu kommen, ist herzlich eingeladen, in bewährter kolonialer Manier zu von uns diktierten Konditionen die von uns benötigten Ressourcen ranzuschaffen oder wahlweise auf der Flucht vor den von uns mitverursachten widriger werdenden Umweltbedingungen an unseren Außengrenzen zu verrecken. – Dass diese Geisteshaltung nicht mehr nur von irgendwelchen AfD-Nazis vertreten wird, sondern auch in den sog. Volksparteien immer mehr Boden gewinnt:5 Pardon my french, das k***t mich an.
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- Beitrag nicht mehr verfügbar ↩︎
- Weil ich privat gefragt wurde: Die Formulierung Kanzlerdarsteller soll weder das Amt als solches noch die formale Legitimität des aktuellen Inhabers infragestellen, sondern bezieht sich ausschließlich auf die Person Olaf Scholz und auf seine von mir wahrgenommene mangelnde Bereitschaft (oder Fähigkeit? I don’t know), das Amt adäquat auszufüllen. ↩︎
- Hier ausdrücklich betont für Friedrich Merz und Geistesverwandte, nicht weil ich diese Unterscheidung wichtig fände. ↩︎
- Wie dieses Niveau aussehen könnte, dazu gibt es natürlich fundierte Überlegungen und Berechnungen, siehe zum Beispiel das Projekt Living Well Within Limits und hier insb. die Publikation Providing decent living with minimum energy: A global scenario, eine knappe Zusammenfassung auf Deutsch lässt sich im Kapitel „Verständigen“ in Maja Göpels „Wir können auch anders“ lesen. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass wir insgesamt wieder auf den Lebensstandard zurückkommen, der in Deutschland in den 1960er Jahren typisch war. Möchte jemand, der/die sich erinnert, behaupten, dass das Leben damals nicht lebenswert war? ↩︎
- Und wie zur Bestätigung kam am nächsten Tag die Meldung, dass nun auch Jens Spahn für Gewalt gegen Migrant:innen an den EU-Grenzen eintritt. Bald wird es übersichtlicher, diejenigen Unions-Granden aufzulisten, die noch keine Initiativbewerbung an Reichskanzler Höcke verfasst haben. ↩︎
7 Comments
uli
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Und wenn wir schon bei hilfreicher Literatur sind: Earth for All, der neue Bericht an den Club of Rome zeigt, wie die Grundbedürfnisse für alle Menschen innerhalb der planetaren Grenzen der Erde noch in diesem Jahrhundert gedeckt werden könn(t)en.
Frau Momo
Ich kotze gerade quasi permanent im Strahl, wenn ich lese, wie sich alle an populistischen Forderungen überbieten. Herr Spahn faselt davon Migration mit physischer Gewalt verhindern, Frau Wagenknecht brabbelt was von vertretbarer Migration. Mir ist nur noch schlecht.
Marius Launer
Du schreibst:
„also eine migrantische Person auf 40 Ureinwohner“
Ob das Rechnung wirklich Stimmt, bin ich mir nicht sicher. Aber es wird bestimmt kein Große Unterschied ausmachen wen man die Zugereiste Russen/Polen Deutsche und „eingefärbten“ Türken aus den Zahl von „Ureinwohner“ streichen wird. 😉
Zu dem rest…
JA Du hast volkommen recht. Unsere Wohlsatnd habt Europa auf dem Rücken und Leid den anderen Aufgebaut … Problem dabei ist aber … das bbwohl WIR die Preise gemacht haben, Profietiert haben NUR weniger von uns.
NUR Die die an denn Schnürren ziehen, können heute Sagen das Sie Gewinn gemacht haben. Die Kapitalisten die unsere Arbeitsplätze verlagert haben in die Regionen der Welt wo Bilig und noch Biliger Produziert wurde.
So gesehen auch die „kleinen“ aus reiche Europa wurde dabei Ausgebeutet und vor den Wand gestellt.
Jetzt wo die Welt auf die Reise sich zu uns gemacht hat, haben wir ein Problem.
Nicht weil unsere Wirtschaft das nicht mitziehen/mitfinanzieren kann. NOCH kann sie es… aber weil unsere System dafür nicht vorbereitet ist. Die fehlende Wohnungen, die kosten die das gesundheitsystem trägt und die entstehende unterschiden zwischen den Kulturen. Es sind herausforderungen die unsere Gesselschaft auf einmal Tragen muss. Nicht die Reichen oder die die es Hundert Jahre Profitiert haben… NEIN ! die leben in Ihren Willen ausserhalb der Stadt. Werden mit eigenen Choferen ins Büro gefahren … und die Einkäufe machen vielleicht die Eingestellten. Die merken niemals das Deutschland der letzte 30 Jahren sich gewaltig verändert hat … NEIN!
Es merken die Normallo Müller Meier Schmidt und Schmitz. Die es jeden Tag kämpfen müssen an den Drehbank, bei kehren der Strasse oder in unsere Schullen . Die merken es, wie stark sich Deutschland verändert hat. Die, die es jeden Tag mit den „Fremden“ zu tun haben.
Natürlich WIR werden auch das Beweltigen… Die nächste generation Wird es machen müssen.
OK ich bin ein wenig weggedriftet
Grüße czoczo
Christian Wöhrl
(nur ganz schnell: danke für deinen Kommentar, pardon fürs späte Freischalten, ich bin unterwegs. Daher schaffe ich heute auch keine Antwort auf deine vielen interessanten Gedanken, über die ich mich auf jeden Fall freue.)
Aebby
Zustimmung! Ausführlicherer Kommentar folgt noch.
Aebby
Nichts was im Moment in diesem Themenfeld getan wird, hilft irgendjemandem oder löst ein Problem. Es ist alles nur Politik-Theater. Was mir aber noch mehr Bauchschmerzen bereitet ist folgendes: Was wir heute erleben ist erst der Anfang eine Massenmigration und Flucht. Abschottung und Gewalt werden das Problem nicht lösen. Die heutigen Industrienationen stehen in der Verantwortung die Ursachen in den Herkunftsländern zu verringern. Ein Lebensstandard wie in den 60er wäre ein kleiner Preis dafür.
Ich bin mittlerweile der Überzeugung, dass ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum basiert uns immer weiter in die Misere treiben wird.
Christian Wöhrl
Abschottung und Gewalt werden das Problem nicht lösen. Die heutigen Industrienationen stehen in der Verantwortung die Ursachen in den Herkunftsländern zu verringern.
Dieser Blick über den Tellerrand scheint mir leider zu wenig verbreitet zu sein. Grade diese Woche hatte ich wieder ein diesbezüglich ernüchterndes Erlebnis: Es gab eine Bürgerbeteiligungs-Veranstaltung zur örtlichen Klimaschutzplanung, und sogar der Referent des externen Büros, also derjenige, der von der Gemeinde dafür bezahlt wird, die Planungen voranzutreiben, war sich nicht für die Aussage zu schade, Klimaschutz rechne sich eigentlich in den allerseltensten Fällen, ohne aber nur ein Wort darauf zu verschwenden, warum er trotzdem so wichtig ist. Aufklärungsbedarf wäre offensichtlich gegeben gewesen, denn die sonstigen Wortbeiträge drehten sich wesentlich um Dinge wie Werterhalt des Eigenheims und wo man den vielen Strom für all die E-Autos herbekommt, die man hoffentlich bald hat. (Und wenn wir nicht dieses blöde NSG hätten, könnte man dort ja so schön einen Solarpark …)
Nein, am Verständnis dafür, dass wir das Schlimmste nur in globaler Kooperation abwenden können und dass der globale Norden ungleich größere Beiträge zu leisten und Abstriche zu machen hat, fehlt es hinten und vorn.