Maßlos überzogen
Können wir uns bitte (abseits interpretatorischer Feinheiten aktueller Schlichtungsversuche, mehr allgemein betrachtet) ganz dringend ins kollektive Bewusstsein zurückrufen, dass es noch vor wenigen Generationen als maßlos überzogen galt zu fordern, dass
— regelmäßig an weniger als sieben vollen Tagen pro Woche harte Erwerbsarbeit zu leisten ist,
— es einen Anspruch auf Urlaub geben sollte,
— Erkrankung kein Kündigungsgrund ist oder beispielsweise
— auch nichtmännliche Menschen ihre politische Überzeugung an der Wahlurne zum Ausdruck bringen dürfen?
Dass diese und ähnliche Forderungen in Deutschland weitestgehend erfüllt sind, haben wir weniger der weisen Einsicht der jeweils besitzenden = herrschenden Klasse zu verdanken als dem Umstand, dass unsere (Ur-)Großeltern dafür auf die Straße gegangen sind und dabei manchmal auch veritable Kämpfe ausgefochten haben, gegen die sich ein Eisenbahnerstreik des 21. Jahrhunderts eher niedlich ausnimmt.
Und wer sich heute über maßlos überzogene GDL-Forderungen aufregt, weil ja angeblich alle wesentlichen sozialen Errungenschaften längst erreicht sind (gleich mehrere Stunden weniger pro Woche?!), möge sich selbst mal befragen, wie er:sie zu einem Schichtdienst stehen würde, wie er für Lokführer heute die Regel ist. Mit einiger Wahrscheinlichkeit würde der:diejenige das, verwöhnt von den eigenen (wir erinnern uns: von den Altvorderen erstreikten!) beruflichen Privilegien, für unzumutbar halten.
Und noch mal eine Ebene allgemeiner hielte ich Kritik an Streiks für akzeptabler, wenn ein grundlegender Konsens darüber bestünde, dass wir unsere Probleme gemeinsam lösen wollen, ganz solidarisch jede:r nach der eigenen Leistungsfähigkeit. In einer solcherart verfassten Gesellschaft wäre es gewiss nicht nötig, streikend das halbe Land lahmzulegen. Aber davon kann wohl keine Rede sein – eher dominiert eine Grundhaltung, die man hierzulande FDP-Moral nennen könnte (die Nachbarschaft hat ihre je eigenen ähnlichen Geschmacksrichtungen) und die als zentrale Botschaft über nahezu alle von mir wahrgenommenen Kanäle flimmert: Hey, es ist völlig in Ordnung, ein A…loch zu sein, die anderen sind es doch auch – und wenn du nur schneller und stärker und rücksichtsloser bist, dann hast du dir alles verdient, was du haben willst.
Kurzum: Wir halten es die meiste Zeit für völlig in Ordnung, uns knallharten, zerstörerischen Egoismus als Individualismus, Freiheit und haste-nicht-gesehen schönzulügen. Aber sobald sich mal eine Gruppe von Menschen um die eigenen Interessen kümmert, die ein paar wirklich wirksame Hebel in der Hand hat, entdecken wir plötzlich unseren Sinn für gesellschaftliche Verantwortung?