Zweierlei Angst – Sammelnotizen 25. März
In Gesprächen und im Mailverkehr begegnen mir dieser Tage zwei unterschiedliche Ängste. Die eine Sorte ist mir selbst nicht ganz fern, wobei ich mich diesbezüglich noch nicht als ängstlich, sondern eher als besorgt einstufen würde: Das ist die Angst vor dem Virus selbst, insbesondere vor dem Hintergrund des Wissens darum, was es bisher schon in Italien und anderswo angerichtet hat.
Die andere Sorte Angst ist für mich weniger nachvollziehbar, aber bemerkenswert weit verbreitet: Das ist eine Sorge um die Wirtschaft, die allgemeine oder auch in Gestalt des eigenen Aktiendepots, die als wichtiger wahrgenommen wird als das individuelle physische Wohlergehen – in extremer Ausprägung etwa die medial dokumentierte Opferbereitschaft des texanischen Vizegouverneurs.
Schon klar, es sind nicht zu knapp wirtschaftliche Rechnungen im Spiel:
Unser derzeitiges Gesundheitssystem ist so dimensioniert, dass es unter Normalbedingungen alle schwer und schwerst Kranken in einigermaßen angemessener Form versorgen kann. Nicht in optimaler Form – dem steht nicht zuletzt die Gewinnerzielungsabsicht vieler Träger des Gesundheitswesens entgegen. Für Pandemie-Bedingungen ist das System offensichtlich unterdimensioniert. Wollten wir Kapazitäten für Corona und ähnliche Krisen vorhalten, bei Intensivpflegebetten, Material und vor allem Personal, dann hätten wir in unkritischen Zeiten massive Überhänge und entsprechende Kosten bzw. Gewinnrückgänge. Und das wären dann nur die Defizite im Gesundheitswesen – jetzt im Lockdown kommen ja noch teils dramatische Defizite in etlichen anderen Bereichen dazu.
Als Gesellschaft müssen wir also ausbalancieren: Wie viele zusätzliche Tote wollen wir uns leisten, um a) die Anteilseigner von Klinik-AGs nicht zu verprellen und b) die gesamte Wirtschaft nicht (noch viel mehr) zu gefährden? Das klingt hart, ist aber ein normaler Vorgang: So nehmen wir jährlich 3000–4000 Tote im Straßenverkehr in Kauf, um uns nicht der Vorzüge der Automobilität zu begeben. Diese Größenordnung erscheint unserem Gemeinwesen, per unausgesprochener Übereinkunft, als ein vertretbarer Preis, auch wenn wir, individuell befragt, sicher völlig unterschiedliche Angaben machen würden.
Aus wirtschaftlichen Gründen die gegenwärtigen Restriktionen abzulehnen (statt aus grundrechtlichen Bedenken, die für mich, das am Rande, besser nachvollziehbar wären) bedeutet demnach, andere Gewichtungen bei der Abwägung zwischen Menschenleben und Profit zu setzen als derzeit der Gesetzgeber. Wenn ich das kritisch sehe, lasse ich mir dafür gern Naivität vorwerfen. Jedenfalls wird diese Haltung für mein Empfinden regelrecht absurd, wenn sie von Mitgliedern der Hochrisikogruppe geäußert wird im vollen Bewusstsein dessen, dass man bei Erhöhung der Sterberate zu den wahrscheinlichsten Opfern gehörte. Und da ich weiß, dass es außer besagtem Texaner noch andere Menschen gibt, die genau so denken (oder es zumindest glaubwürdig behaupten), versuche ich gerade zu begreifen, worin die dahinter liegende eigentliche Angst besteht. Allein es gelingt mir nicht: Was wäre so schlimm daran, wenn das individuelle menschliche Leben und gesellschaftliche Solidarität im Zuge der Krisenbewältigung wieder einen höheren Stellenwert in Relation zum Shareholder Value erhielten? Freiwillige Menschenopfer zur Rettung des Kapitalismus – ob er das wert ist?
***
Noch eine thematisch verwandte Notiz: Es gibt Überlegungen, zum sozusagen kontrollierten Wiederanfahren des notausgeschalteten Reaktorblocks Deutschland das Wirtschaftsleben möglichst komplett zu erlauben, derweil Angehörige der Risikogruppen (vulgo Ältere und bestimmte Kranke) weiter isoliert bleiben sollten.
Schön und gut, nur sind jene Risikogruppen weitgehend deckungsgleich mit denen, die (oft ohne adäquate Abbildung in den ökonomischen Kennzahlen) „den Laden am Laufen halten“ – durch Kinderbetreuung und ehrenamtliches oder prekär entlohntes Arbeiten in Vereinen, bei den Tafeln und, und, und. Sie sind es, die unserem Wirtschaften erst ein menschliches Gesicht geben. Wenn wir all die Läden und Büros wieder aufmachen, die Generation Ü60 aber weiter weggesperrt lassen, haben wir Kapitalismus mit seiner hässlichsten Fratze, also ungefähr das Gegenteil dessen, was die Optimisten unter uns sich von der Zeit nach Corona erhoffen.
***
Wie halte ich mir Blödsinn vom Leib? Derzeit geht grässlich viel Energie dafür drauf, die massenhaft eintrudelnden Leseempfehlungen in nützlich und kann weg zu sortieren. Manchmal weiß man es schon am Absender, aber oft erlebt man doch Überraschungen in die eine oder andere Richtung. Und nicht immer ist es so einfach zu recherchieren wie bei dem 30-Seiten-PDF, das gestern gleich auf mehreren Kanälen reinkam (hier nicht verlinkt) – da habe ich im Volltext nach Wodarg gesucht und gesehen, dass er kritiklos als Experte zitiert wurde, das konnte dann direkt in den Müll. Aber auch solches Vorselektieren ist, selbst wenn es funktioniert, mit Aufwand verbunden und kostet Zeit, die mir an anderer Stelle fehlt (denn da ich sowieso schon seit Jahren Homeoffice praktiziere, läuft der Betrieb noch halbwegs normal weiter).
***
Foto: immer noch Januar 2008, diesmal ein 6×6-Negativ. Hamburg, an der Eilenau.
9 Comments
Bert
Guter Text! Bin da ganz bei Dir!
Die Pandemie zeigt – und nicht nur erst gestern seit „Neuem aus der Anstalt“ – was alles der Wirtschaft, dem Profit geopfert wurde (Krankenhausbetten, Klinikpersonal, Antibotika-Firmen, …) und wenn man dem Schlechten was Gutes abgewinnen will, dann, dass das alles derzeit gerade überdeutlich ans Licht kommt. Ist es naiv zu hoffen, dass nach der Pandemie was getan wird?
chw
Ich weiß nicht, ob diese Hoffnung naiv ist, aber ich teile sie. Und wir sind damit definitiv nicht allein – einer der m.E. besten momentan herumgereichten Texte ist der von Matthias Horx über die Welt nach Corona.
puzzleblume
Ich bin überrascht, dass es so lange gedauert hat, bis öffentlich geäussert wurde, wie leicht es doch wäre, das Sozialsystem von den grössten Kostenfaktoren im Sozialsystem, den Rentnern und Kranken, aber auch den Armen und sonstwie dem System auf der Tasche liegenden Menschen zu entlasten.
Nur funktioniert die Rechnung nicht, wie du ganz treffend anmerkst, wenn die Risikogruppe bereits ab 50+ angesetzt wird, wie häufiger zu lesen, denn in dieser befinden sich nicht nur die Führungskräfte von Wirtschaft, Verwaltung und Politik, sondern auch die ganz normalen Mitarbeiter der Sozial- und Bildungseinrichtungen, Verkehrsbetriebe und all der Arbeitsbereiche, die nicht gerade unter die Gruppe der Schwerarbeiter fällt.
Nimmt man dann noch die Arroganz der meist im Altersschnitt etwas jüngeren Großstadt aus dem Spiel und berücksichtigt die Altersstrukturen der ländlichen Regionen, kann man feststellen, dass eine mangelnde Rücksichtnahme auf die achso lästigen „Alten“ die gesamte dort ansässigen Gesellschaft wirtschaftlich und sozial zum Erliegen bringt, was flächendeckend eine schwierige Versorgungslage zurfolge hätte, gerade weil Länder wie Spanien und Italien etc., aus denen gewohnheitsmässig landwirtschaftliche Produkte bezogen werden, grössere Probleme haben.
Wer mit den Öffis zur Arbeit fährt, soll einfach mal hinsehen, wie alt derjenige wohl ist, der den Bus oder Zug fährt, oder sein Hausarzt, Apotheker, Lebensmittelhändler, oder wer eigentlich diejenigen sind, die das neue Produkt der Begehrlichkeiten, die Bio-Kartoffeln, liefert, um den allzu theoretischen Kopf-Pingpong wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.
chw
Viele wichtige Aspekte – für den Moment erst mal nur danke! dafür.
Rainer Hartwich
Guten Morgen, ich kann jedes Deiner Argumente gut nachvollziehen.
Es wäre jetzt an der Zeit Artikel 2 des Kölschen Grundgesetzes anzuwenden: „Et kütt wie et kütt.“ Nur zeigt sich, es ist leichter aus „sicherer Entfernung darüber zu konfabulieren, als es zu leben.
Ja, und der wirtschaftliche Aspekt macht mir auch viel Sorgen, nicht zuletzt gebiert wirtschaftliche Not auch Kriminalität.
Lg. R.
chw
Es wäre auch allzu merkwürdig, würde man sich über die wirtschaftlichen Entwicklungen keine Sorgen machen. Das wäre dann eine andere, letztlich nicht minder menschenfeindliche, weil zynische Extremposition.
Rainer Hartwich
Nicht jeder denkt so! Ich bin mir sicher, es gibt nicht Wenige, die aus der Situation sogar jetzt kräftig Kapital schinden, ohne dabei „mit der Wimper zu zucken“. Wie etwa die großen Autokonzerne, die gerade mit Staatsknete ihre auf Halde stehenden Autos loswerden wollen. Die Leute, die jetzt in der Not versuchen sich zu „sanieren“, haben dabei kein schlechtes Gewissen. Sie würden Dir wahrscheinlich mit ihren hoch bezahlten Anwälten drohen, wenn sie „zynische Extremposition“ lesen würden. Leider ist es das nicht. Lg. R.
thomas
@Freiwillige Menschenopfer zur Rettung des Kapitalismus:
ich sehe da zwei mögliche ansatzpunkte. zum einen ist die beharrlichkeit kein zu unterschätzender faktor. das leben hat auf eine gewisse art eingerichtet zu sein; und da kann aus dem gedanken diesen „way of life“ für die kinder oder wen auch immer aufrecht zu erhalten eine wahrgenommene eigene größe/heldenhaftigkeit entstehen wenn ein opfer dafür gebracht wird.
andererseits sind sowohl hier wie drüben überm teich viele existenzen mittlerweile so prekär, dass keine andere option über bleibt. arbeiten oder arm sein und in „schande“ leben. die menschen an den supermarktkassen sind ja auch nicht beseelt von ihrer heiligen mission ihren mitmenschen unter beifall aller den einkauf abzurechnen. da gibt’s nen kleinen bonus für pr-zwecke und dann wird weitermalocht damit miete, strom und essen da ist. bei einsatz des eigenen lebens.
da jetzt noch weiterzudenken… gerade eindeutig zu schwer.
chw
Beharrlichkeit: Ja, da ist wohl was dran. – Und tatsächlich finde ich es auch wahnsinnig schwierig, zu schlüssigen Positionen zu kommen, mehr als bloß verunsicherte Fragen und vorsichtige Beobachtungen in den Raum stellen zu können. Im Moment traue ich mir noch nicht mal eine Einschätzung zu, ob diese paar Tage und Wochen wirklich nachhaltige Änderungen bringen werden, geschweige denn in welche Richtung …
(Sorry, ich hatte versehentlich zuerst den zweiten Kommentar freigeschaltet, den ohne Bloglink, aber das ist ja Quatsch.)