Vermischte Zweifel
… zu Fragen der Diskursethik im weiteren Sinne:
De mortuis nil nisi bene – auf diesen Nachruf auf Donald Rumsfeld in The Atlantic (via) trifft dieses Prinzip nicht mal im Ansatz zu, sondern er beschreibt den Verstorbenen ausführlich als den schlechtesten Verteidigungsminister, den die USA bislang hatten. Und ich frage mich seit der Lektüre: Darf man das? Der Text ist einigermaßen sachlich und argumentiert für mein Empfinden sauber, aber trotzdem … ich bin nicht sicher, ob ein solches, nun ja, Nachtreten eine legitime Form der Meinungsäußerung ist oder doch eher eine weitere Verrohung begünstigt.
Was mich direkt zum zweiten tagesaktuellen Zweifelsfall bringt:
Wem es im Wahlkampf an inhaltlicher Argumentation gebricht, der packt eben die Güllepumpe mit der ganz breiten Düse aus … Das hätte die Grünen nicht überraschen dürfen, hat es aber wohl doch. Nun liest man immer mal wieder, deren Umgang mit Kritik (berechtigter wie unberechtigter) sei nicht professionell genug. Aber was hieße denn professionell in diesem Kontext, wenn nicht, genauso abgebrüht und niederträchtig zu werden wie die Gegenseite? Hieße es nicht, sich einzulassen auf die Regularien einer (social-)medial getriebenen Aufmerksamkeitsökonomie, die saftige Schlammschlachten höher bewertet als noch die dringendsten sachlichen Debatten? Brauchen wir wirklich noch mehr abgezockte Polit-„Profis“?
Hier hat auch jemand erhebliche Zweifel, nämlich daran, ob es überhaupt noch Sinn ergibt, journalistische Texte über die Klimakatastrophe zu veröffentlichen. Diese Jemand ist Sarah Miller, deren schon etwas ältere Reportage Heaven or High Water über den Immobilienmarkt in Miami gerade traurige Aktualität gewonnen hat, und ich finde vieles von dem, was mich gedanklich bewegt, in All the right words… perfekt in Worte gefasst; aber wie es der Artikel beschreibt: Die perfekten Worte sind längst gesagt, oft genug, und was hat es genützt? – Abschließend empfiehlt der Text ein Büchlein mit dem charmanten Titel How to Blow Up a Pipeline, was eher nach dem Ende aller Diskurse klingt … (ich werde es wohl trotzdem mal lesen).
4 Comments
uli
Was wäre die Alternative? Wie könnte man sich sonst an Rumsfeld erinnern? Eine Verrohung wäre, würde man sich über seinen Tod freuen. Das lese ich nicht. Der letzte Satz zeigt eher eine gewisse Verzweiflung über die Existenz und Macht solcher Zeitgenossen.
Christian Wöhrl
Ja, das stimmt wohl, das mit dem Freuen. Danke.
Detlef Steuer
Das ist doch ein sehr freundlicher Nachruf auf jemanden, der hunderttausende Tote und die Wiedereinführung der Folter auf seinem Kerbholz hat, ohne, wie dort ja auch steht, je an sich gezweifelt zu haben. Man hätte „nil“ wählen können, aber „bene“ ist bei einem solchen Menschenfeind nicht leicht. In der Tagesschau haben sie Folter einfach „aggressive Verhörmethoden“ genannt und ihn „Architekt des Irak-Kriegs“ ohne jede Einordnung. Dann lieber „nil“, denn das Angebotene ist Reinwaschung in Reinkultur.
Der passende Nachruf wäre folglich gewesen: Rumsfeld ist tot. De mortuis nil nisi bene. Wir schweigen.
Christian Wöhrl
Schöner Gedanke, das explizite Schweigen. Und es wäre wirklich noch nicht zu viel Haltung, finde ich.