Die sogenannte Zeitenwende
Rückblicke zum Jahreswechsel habt ihr alle sicher schon zur Genüge gelesen, da braucht es nicht noch einen von mir. Ein Punkt ist mir heute aber noch wichtig:
Es war seit Russlands Überfall auf die Ukraine oft von einer Zeitenwende die Rede, in dem Sinne nämlich, dass dieser Angriffskrieg die Sicherheitslage für Europa verschiebt und der Klimaschutz jetzt nicht mehr so wichtig sein darf. Das ist grundfalsch, denn Ukrainekrieg und Klimakrise sind meines Erachtens zwei Aspekte desselben Problems.
Wladimir Putin ist nur ein besonders bösartiger Vertreter des alten weißen fossilen Patriarchats, das sich in vielen Teilen der Welt an Schlüsselpositionen der Macht festgeklebt hat, um jegliche Entwicklung hin zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung zu blockieren. Einige seiner Geistesverwandten sind vorübergehend abgelöst worden (Trump, Bolsonaro), aber der Typus hält sich, auf zum Glück meist niedrigerem Niedertracht-Level, hartnäckig fast überall im globalen Norden in Regierungs- und Oppositionsämtern ebenso wie in wichtigen Bereichen von Medien, Wirtschaft und Gesellschaft.
Was diese Herrschaften (einzelne Frauen mitgemeint) verbindet, ist das Wissen darum, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist: Machtkonzentration, die sich auf die Ausbeutung des globalen Südens und auf die Ausgrenzung aller anders Aussehenden, Sprechenden, Glaubenden, Denkenden stützt, ist weder legitimiert noch fähig, zur Lösung globaler Krisen – Klima, Biodiversität, Raubbau endlicher Ressourcen – beizutragen. Und die vermeintliche Zeitenwende beschreibt lediglich den Umstand, dass ein Teil der heißen und kalten Kriege überall auf der Welt zur Verteidigung zusammengeraubter Privilegien 2022 so nah an uns herangekommen ist, dass wir sie jetzt nicht länger ignorieren können – neu aber ist das alles nicht.
Eine wirkliche Zeitenwende, wie ich sie uns für 2023 und folgende wünsche, werden wir erst haben, wenn die Welt (Süd und Nord, Ost und West) ihren fatalen Hang zu Abschottung und Ausgrenzung überwindet und in einen Modus globaler Kooperation übergeht. Nennt mich naiv, aber eine Welt, in der auf einem insgesamt niedrigeren als dem hiesigen Wohlstandsniveau Frieden herrscht, kommt mir viel attraktiver vor als ein Europa, das seinen global überhöhten Lebensstandard durch immer höhere Mauern vor dem Rest der Welt verteidigen muss.
Und auf dem Weg dahin sind mir auch weiterhin Menschen, die auf Straßen kleben, um auf Missstände hinzuweisen, allemal sympathischer als solche, die an der Macht kleben und buchstäblich lieber die Erde brennen sehen, als ihre vorgestrige Weltanschauung zu hinterfragen.
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In diesem Sinne kommt jetzt ein letztes Mal für dieses Jahr die beste Band der Welt zu Wort:
Nein – geh mal wieder auf die Straße, geh mal wieder demonstrieren
Denn wer nicht mehr versucht zu kämpfen – kann nur verlieren
Die Dich verarschen, die hast Du selbst gewählt
Darum lass sie Deine Stimme hörn, weil jede Stimme zählt
Also: Radikalisiert euch ein bisschen, und bleibt anständig dabei! Wir lesen uns nächstes Jahr wieder …
Und statt guter Vorsätze ein frischer Ausblick aus meiner Werkstatt auf das Konsumjahr 2023:

