Notizen zu Fahrrad-Demos

Aus gegebenem Anlass: Wenn man im Familien- oder Freundeskreis von der Critical Mass oder ähnlichen Fahrrad-Demonstrationen berichtet, kommen gern mal Vorwürfe, wir seien radikale Autofeinde und wollten älteren Menschen den Zugang zur Innenstadt verunmöglichen. Dazu ein paar Gedanken:
Es geht bei Critical Mass und anderen Fahrrad-Demos grundsätzlich nicht darum, dass alle nur noch mit dem Rad oder zu Fuß in die City kommen, und vor allem geht es nicht darum, mobilitätseingeschränkten Bürger*innen das Auto zu verbieten.
Im Gegenteil geht es darum, dass unabhängig vom Alters- und Gesundheitszustand alle Menschen gleichermaßen die Chance haben sollten, sicher und schnell jedes Ziel in der Stadt zu erreichen. Der Erfüllung dieses Wunsches steht eindeutig im Weg, dass ein erheblicher Teil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) in der Innenstadt objektiv unnötig und vermeidbar ist:
Nur ein Bruchteil der Autos im Citybereich wird benötigt, weil ihre Benutzer*innen körperlich so eingeschränkt sind, dass sie weder Fahrrad noch ÖPNV verwenden könnten. Ein deutlich größerer Teil des privaten Autoverkehrs in der Stadt lässt sich entweder auf Bequemlichkeit zurückführen, weil man sich in der manchmal recht schmuddeligen U-Bahn nicht wohlfühlt, oder z.B. darauf, dass viele Menschen sich nicht trauen, selbst für hinreichend kurze Strecken das Rad zu nehmen, weil so viele Autos unterwegs sind, dass ihnen das Radfahren zu gefährlich vorkommt. Dann nehmen sie selbst wieder das Auto und machen den restlichen Radler*innen das Leben noch gefährlicher, ohne zu merken, dass sie dadurch zum Teil des Problems werden.
Wenn wir den Wirtschaftsverkehr außen vor lassen und nur den privaten MIV betrachten, kann davon ausgegangen werden, dass in Ballungsräumen deutlich mehr als die Hälfte davon vermeidbar wäre, wenn nur der ÖPNV und das Radwegenetz hinreichend attraktiv und sicher wären. Dann würden auch diejenigen, die aus Alters- oder Gesundheitsgründen tatsächlich zwingend mit dem Pkw ans Ziel kommen müssen, auf dem Weg dorthin nochmals sicherer und bequemer unterwegs sein (weniger Stau, mehr freie Parkplätze). Dabei würde die Stadt auch ruhiger und sauberer werden, das brächte mehr Lebensqualität für alle.
Es gibt dabei noch einen anderen Aspekt: Wenn in einer dicht besiedelten Region weniger Infrastruktur für MIV vorgehalten werden muss – Straßen, Parkplätze –, können Flächen teilweise entsiegelt und begrünt werden. Das macht eine Stadt widerstandsfähiger gegen Starkregen und anderes Extremwetter, außerdem sinken die Temperaturen im Sommer im Innenstadtbereich dort, wo er grüner und „poröser“ wird, um mehrere Grad ab. Wenn man weiß, dass allein in Deutschland in den letzten Sommern pro Jahr etliche tausend meist ältere Menschen an Hitzefolgen gestorben sind, ist es doch ein offensichtlich erstrebenswertes Ziel, eine Stadt weniger hitzeanfällig zu machen.
Aus all diesen Gründen sind die Demos von uns vermeintlich so radikalen Radler*innen in Wirklichkeit von dem Ziel getrieben, jeder und jedem, also auch und vor allem älteren, gehandicapten Menschen bequeme und sichere Teilhabe am Leben in der Stadt zu ermöglichen. Wir sind auf derselben Seite; unser gemeinsamer Gegner sind die unbefriedigenden Verhältnisse im Straßenverkehr.
***
Apropos Radfahren: Warum bin ich hierauf noch nicht früher gekommen?
Nu, so ein Zeitfahrlenker sieht ja doch ein bisschen aggressiv aus, außerdem irgendwie nach Wettkampf, was halt so gar nichts mit mir zu tun hat. Aber man sieht diese Dinger hin und wieder an Langstrecken-Maschinen, und dieses Jahr beim Transcontinental-Dotwatching habe ich beschlossen, dass das auch was für mich ist, und habe nach etwas Recherche dieses alte Modell glücklich gebraucht erstehen können. Second Hand ist mir ja sowieso am liebsten; aber die aktuellen Fabrikate haben auch meist die Halterung der Unterarm-Auflagen in die Lenkerklemm-Schellen integriert, wodurch die obere Griffposition am Basislenker zugebaut ist, das wäre mir gar nicht infrage gekommen. (Sieht hier durch die Perspektive zwar auch so aus, als ob es oben eng ist, aber tatsächlich kann man um die separat montierten und in Längsachse verstellbaren Auflagen noch gut drumrumgreifen.)
So entfällt zwar die Halterung für die Lenkertasche (auf der ich früher auf langen Flachstrecken auch schon mal die Arme abgelegt habe), aber eine kleine Tasche lässt sich auch unter die Ausleger hängen. Im Austausch erhalte ich zwei bis drei zusätzliche Griffpositionen, die sehr wirksam den Druck von den Handballen nehmen, ohne dass ich Kontrolle über die Lenkung verliere, und selbst bei nicht leistungsorientierter Fahrweise ist die Energieersparnis durch die verringerte Frontfläche signifikant: Bei Reisetempo um 25–30 km/h wird das Fahren gegenüber der Basisposition so viel leichter, als würde man am Berg ein bis zwei Gänge runterschalten – nur ohne langsamer zu werden.
Beim nächsten Mal nach Berlin oder ins Rhein-Main-Gebiet kann ich dann also auf platter Strecke ganz gemütlich unterwegs rumliegen und komme trotzdem voran …


4 Comments
Frau Momo
Wir haben uns gerade, weil die Karre mal wieder eine nicht ganz billige Reparatur nötig hatte, mit den Möglichkeiten von Car Sharing beschäftigt, da der Gatte ja zu der von Dir beschriebenen Gruppe der stark mobilitätseingeschränkten Menschen gehört. Leider ist das zumindest hier in unserer Wohngegend keine Option, aber grundsätzlich finde ich das eine gute Alternative zum eigenen Auto. Auch wenn wir unser Auto brauchen, die meiste Zeit steht es rum und verbraucht Fläche in Form eines Parkplatzes. Ich hoffe, das angesichts der Demos und Diskussionen Möglichkeiten wie Car Sharing zunehmend attraktiver und erschwinglicher werden.
Ich beobachte hier jeden Morgen die unzähligen Elterntaxis vor der benachbarten Grundschule und mal abgesehen vom Autoverkehrswahnsinn denke ich immer, toll, das schon die Kinder lernen, das man keinen Schritt zu Fuß gehen muss oder mit dem Fahrrad/Bus fahern kann.
Christian Wöhrl
Ja, auf bessere Bedingungen für Carsharing hoffe ich auch noch. Bin zwar selbst dort, wo das Rad keine Option ist, meist noch lieber mit Zug als mit Auto unterwegs, aber je weiter außerhalb der Zentren man unterwegs sein möchte, desto weniger konkurrenzfähig ist der ÖPNV. Und die Kombi Zug+Rad wird in meiner Wahrnehmung derzeit auch immer schwieriger, da steigt die Nachfrage deutlich schneller als der verfügbare Platz.
Hast du übrigens nebenan gesehen, dass die Saison 😉 begonnen hat? https://pixeleien.cwoehrl.de/2023/09/09/ueber-flieger/
Frau Momo
Hihi…. mir sind sie vorgestern in der Seeveniederung über den Kopf geflogen. Hier scheinen einige Pärchen auch zu überwintern.
Fahrrad ist hier auch leider keine Option. Jedenfalls nicht für den Gatten. Es ist schon einfach Schei**, wenn ohne Auto fast nix mehr geht.
Christian Wöhrl
Ja stimmt wohl – wahrscheinlich gäbe es zwar auch ein geeignetes Spezialrad für euren Fall, aber so eins muss man in einer Stadt ja auch erst mal sicher abstellen können. Alles gar nicht mal so einfach, wenn man nicht allen Normen gerecht wird :-/