Noch mal zum Veganismus (und darüber hinaus)
Schon mehrfach bin ich bis heute auf die paar Zeilen über Veganismus in meinem vorgestrigen Eintrag angesprochen worden; und offensichtlich habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, denn es gab da einige Missverständnisse. Versuch einer Klärung:
Meine kritischen Bemerkungen bezogen sich nicht auf vegan lebende Menschen im Allgemeinen, sondern auf eine wahrscheinlich kleine, aber überproportional laute Teilmenge davon: auf Leute nämlich, die nur ihre eigene Definition von moralisch einwandfreiem Lebenswandel akzeptieren und beispielsweise unter jeden Blogpost oder Tweet über veganes Fastfood kübelweise Hass ausschütten, weil solche niedrigschwelligen Angebote ja nicht die reine Lehre selbst zubereiteter Bionahrung sind.
Ein mir sehr lieber Mensch drückt es so aus: Richtig verstandener Veganismus ist sehr tolerant dafür, dass jede und jeder sich nach den eigenen Möglichkeiten verhält. Das ist eine wünschenswerte Grundhaltung, nur eben – wie so oft – nicht grade die dominanteste im Diskurs. Bloß darauf, auf die lauten Intoleranten, zielte meine Kritik.
Mal abgesehen davon, dass es rein praktisch sowieso nahezu unmöglich sein dürfte, einen 100% veganen Lebenswandel zu führen: Wer seine eigenen Maximal-Maßstäbe an alle anlegt, die gerade erst anfangen, sich mit dem Thema zu befassen, ermutigt nicht, sondern schreckt ab und leistet damit dem eigenen Anliegen einen BärenBeerendienst. Sicherlich besteht kein vernünftiger Zweifel mehr daran, dass Veganismus einen erheblichen Beitrag zur Lösung diverser Probleme von Mensch und Tier leisten kann. Aber auch reduzierter Fleischkonsum ist ein Schritt in die richtige Richtung, und ein paar kleine Schritte können realistischerweise sogar sinnvoller sein als ein sehr großer:
Angenommen, von jetzt auf gleich würde die gesamte Fleisch- und Milchwirtschaft eingestellt, was passierte denn dann mit den Millionen oder Milliarden Nutztieren? Viele Vegangelikale sehen sich (auch) als Tierrechts-Aktivisti, und wenn auf Milchproduktion hin gezüchtete Kühe plötzlich nicht mehr gemolken würden, wäre das eine unfassbare Tierquälerei – nur ein Beispiel von vielen. Wenn nun aber über die Jahre die Nachfrage für Fleisch- und Milchprodukte kontinuierlich abnimmt, könnten die Bestände entsprechend sukzessive reduziert werden, ohne neue, zusätzliche Probleme zu schaffen.
Ist ja bei anderen großen Themen der Gegenwart ganz ähnlich: Natürlich wäre es wunderbar, in einer Welt ohne motorisierten Individualverkehr zu leben. Kann man aber nicht von jetzt auf gleich abschaffen, ohne weite Teile der Bevölkerung in ihrer Mobilität einzuschränken. Dafür müssen erst die Alternativen zumindest sichtbar sein. Das muss sich entwickeln, und es geht ja allmählich auch los: Ich würde schätzen, dass z.B. hier in Hamburg in den letzten zwei Jahren mehr fürs Fahrrad und für nützlicheren ÖPNV getan wurde als in den zwanzig Jahren davor. Und irgendwann werden die Alternativen auch auf dem Dorf und auch für alle erdenklichen Sonderanforderungen so weit sein, dass man sich fragen wird, wie wir jemals so blöd sein konnten, unsere eigenen paar Kilo von tonnenschweren Blechbüchsen bewegen zu lassen.
Das alles, und noch viel mehr, ändert sich natürlich brutal langsam vor dem Hintergrund immer drängenderer globaler Probleme. Aber ich denke mir, dass es ebenso, wie es kritische Kipppunkte in den Ökosystemen gibt, auch positive Kipppunkte in den Gesellschaftssystemen gibt, die dann auch Kettenreaktionen auslösen werden. Es fällt manchmal schwer, dran zu glauben; aber im Grunde ist es doch die Hoffnung auf solche positiven Kipppunkte, die einen morgens aus dem Bett kommen lässt …
(Mal wieder ein Beitragsbild ohne Bezug zum Thema.)
6 Comments
Aebby
Volle Zusstimmung und die zwei Sätze bzw. Formulierungen hänge ich mir an die gedankliche Pinwand.
einen
BärenBeerendienstaber im Grunde ist es doch die Hoffnung auf solche positiven Kipppunkte, die einen morgens aus dem Bett kommen lässt …
Christian Wöhrl
In diesem Kontext auch ein schöner Satz für die Pinnwand, aber nicht von mir:
Better done than perfect.
Leider keine ausreichend weit verbreitete Einsicht. Grade heute im Lokalteil wieder so ein Fall: Gemeinde macht Vertreterversammlung per Zoom, im Großen und Ganzen war man zufrieden trotz einzelner Ruckler, und hinterher wird eine halbe Zeitungsseite von einer Prinzipienreiterin darüber zugequengelt, dass das nicht jedem einzelnen Buchstaben sämtlicher relevanten Verordnungen gerecht geworden sei …
(Da fällt mir auf: Ich muss mal gucken, wie ich euch im Kommentarbereich grundlegende Formatierungs-Optionen bereitstellen kann, um nicht im Backend nachbearbeiten zu müssen …)
Detlef Steuer
Zumal der Vegetarier und Veganer in dieser Welle den Durchbruch geschafft haben. Wer langsam Lebensjahre in erheblichem Ausmaß hinter sich hat, wird sich an die ersten Wellen, damals Vegetarier, Anfang der 80er erinnern. Vermutlich gab es noch vorher auch schon Wellen, aber das fehlen noch Lebensjahre 🙂 Es war äußerst mühsam, meine Schwester gehörte dazu, Lebensmittel zu finden. Es gab genau null gesellschaftliche Anerkennung. Jeder kennt die Geschichte: „Haben sie auch etwas ohne Fleisch?“ „Klar, Bratkartoffeln.“ Die kamen dann mit reichlich Speck …. Meiner Meinung nach ist bei fleischlosem Leben ein solcher Kipppunkt erreicht. Die Regale werden nicht mehr aus den Supermärkten verschwinden. Interessanterweise ist mein Eindruck in dieser Welle auch ein anderer, nämlich, dass die Veganer/-tarier :innen in meinem Umfeld, privat wie beruflich sehr wenig missionarischen Eifer zeigen. Ist ja auch eigentlich nicht mehr nötig, da jeder, der liest alle Argumente kennt. Bei den anderen Fragen bin ich leider nicht sehr optimistisch, welche Kipppunkte zuerst kommen. Unsere Verhaltensänderung oder die Veränderung der Welt da draußen, mit der man dann auch nicht mehr verhandeln wird können. Trotzdem schönes Wochenende!
Christian Wöhrl
Oh ja, diese Sorte Bratkartoffeln kenne ich auch noch zur Genüge, und dabei habe ich 1992/3 erst umgestellt … (Merkwürdig, ich weiß es gar nicht mehr genau, wann das war, obwohl ich bis heute weiß, dass und wo ich mir damals ganz bewusst einen letzten Döner gekauft habe. Ich kann also gar nicht mein 30-Jähriges feiern :-))
Na ja, dass sich unsere Lebensbedingungen infolge der klimatischen Entwicklung in mancherlei Hinsicht zum Schlechten verändern, daran dürfte kaum mehr zu rütteln sein. Das Ziel wäre also Schadensbegrenzung (im Sinne von u.a. Temperaturanstiegsbegrenzung) einerseits und Kompensation (durch menschenfreundlichere Städte, erträglichere Arbeitsbedingungen, sozialere & altruistischere Gesellschaftsstrukturen, … u.v.m.) andererseits.
Weiß nicht, wie viel Wunschdenken meinerseits dabei ist, aber ich habe schon häufiger mal den Eindruck, dass z.B. im Medienbereich reaktionäre Clowns wie Poschardt, Fleischhauer & Co. vermehrt mit Rückzugsgefechten beschäftigt sind. (Dass sie dabei noch viel Schaden anrichten können, ist die andere Sache.)
Frau Momo
Ich bin zwar weder Veganerin noch Vegetarierin, aber ich gehöre quasi zu den Ökos der ersten Stunde. Damals waren das noch muffige Kellerläden und man wurde als Jesuslatschenträgerin und Müslifresserin betitelt. Bio-Lebensmittel wollte kaum jemand kaufen. Und heute? Kein Supermarkt ohne Bio-Lebensmittel (auch wenn man sich über manches trefflich streiten ließe, Bio-Erdbeeren aus Spanien im Winter haben für mich nix mehr mit Öko oder Bio zu tun). Der Prozeß hat aber auch Jahrzehnte gedauert und es brauchte schon den ein oder anderen Lebensmittelskandal.
Ich persönlich kaufe inzwischen fast nur noch im Bio-Hofladen und auch Fleisch nur noch dort, teils aus eigener Erzeugung. Damit reguliert sich unser Fleischkonsum schon fast von selbst, denn das Fleisch hat zu Recht seinen Preis. So sind wir quasi zum guten alten Sonntagsbraten zurück gekehrt. Und vieles mache ich inzwischen lieber selbst, damit ich weiß was drin ist. Denn irgendwo müssen z..B. die Eier aus Legebatterien ja landen und das tun sie u.a. in Fertigprodukten, Keksen, Kuchen etc.
Aber ich kaufe mir auch gefühlt einmal im Jahr ein Döner oder gehe zum Griechen, ohne nachzufragen, woher das Fleisch kommt. Eine zeitlang sind wir alle 2-3 Monate zum Hofverkauf in die Vier-und Marschlande gefahren, haben das mit einem schönen Ausflug verbunden, dort im Hofgarten lecker Kaffee und Kuchen genossen. Da fahren wir zwar aus Gründen nicht mehr hin, aber wir haben anderen Quellen.
Auf individuelle Verkehrsmöglichkeiten sind wir leider aufgrund der Behinderung meines Mannes angewiesen, aber auch da denken wir nach, wie man das anders gestalten kann. Noch haben wir dafür keine Lösung, zumal Car-Sharing hier in unserem Stadtteil keine Option ist. Ich glaube, jeder kann schon was tun und wenn es jeder täte, wäre schon viel gewonnen. Luft nach oben ist immer noch, auch bei uns, auch wenn ich bei fast allem darauf achte, wo es herkommt und wie es produziert wurde. Das ist bei Kleidung oft nicht einfach, weshalb ich ja schon seit Jahrzehnten ausgewiesener Second-Hand Fan bin.
Jeder so wie er mag können wir uns klimatechnisch nicht mehr leisten, aber ich glaube auch nicht, das Veganismus die Welt rettet. Jedenfalls nicht sofort, auch aus den von Dir beschriebenen Gründen.
Christian Wöhrl
Ja klar, Veganismus rettet die Welt nicht; Radfahren nicht; dies-und-jenes nicht; und darum geht es (mir) auch gar nicht. Wie du schreibst:
jeder kann schon was tun und wenn es jeder täte, wäre schon viel gewonnen.
Wir haben eine Reihe von immer größer werdenden Problemen, die wir durch unreflektierten, nur auf den eigenen/kurzfristigen Vorteil achtenden Lebenswandel selbst verursacht haben und die den nächsten Generationen brutal auf die Füße fallen werden. Und so wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in unseren Breiten nahezu Common Sense war, dass ressourcenintensives Wirtschaftswachstum der Schlüssel zu einem guten Leben sei, wird es halt (-> siehe oben gesellschaftliche Kipppunkte) hoffentlich bald Common Sense werden, dass in Wirklichkeit rücksichtsvoller Umgang mit allen Formen des Lebens und Sparsamkeit bei allen nicht-regenerativen Ressourcen der passende Schlüssel ist.
Wenn wir erst mal an dem Punkt sind (und ich sehe Indizien dafür, dass es in die Richtung geht), dass vieles von dem, was bisher als konservativ galt, weithin als zerstörerisch und lebensfeindlich wahrgenommen wird, wird auch genug Verständnis und Toleranz für begründete Ausnahmen von neuen Regeln und Normen da sein. Auf dem Weg dahin finde ich es halt kontraproduktiv, wenn z.B. Teilmengen von Veganer:innen auf Teilmengen von Vegetarier:innen einprügeln (und manchmal auch umgekehrt), statt sich auf die positiven Gemeinsamkeiten zu fokussieren.